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Stuttgarter Mitteilungen über Kunst und Gewerbe — 1905-1906

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Lange, K.: Die Entstehung der dekorativen Kunstformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.6371#0094
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Gesichtspunkt in den Vordergrund,
den ich früher schon gestreift habe,
und auf den ich jetzt etwas näher
eingehen muß, nämlich das Ver-
hältnis der Kunst zum orga-
nischen Leben.

Jede Kunst ist Darstellung ir-
gend eines Lebens. Und zwar
stellt der Künstler dieses Leben
mit Formen dar, die teilweise der
organischen "Welt entlehnt sind,
teilweise wenigstens wenn sie
nämlich dem anorganischen Gebiet
angehören etwas anderes be-
deuten, als was sie sind. Der
Maler stellt mit seinen toten Far-
benpigmenten auf der Leinwand
lebendiges Leben dar, Menschen
und Tiere und Pflanzen, und er
stellt außerdem auch tote Dinge
dar, die aber in der Natur etwas anderes sind, als im Kunstwerk, rein
materiell genommen, z. B. Berge, Häuser, Geräte, Kleider, Waffen usw. Der
Bildhauer verwendet einen toten Stoff, den Marmor oder die Bronze und
verlangt, daß wir uns unter ihm Fleisch, lebendige pulsierende Körper mit
schwellenden Adern, gespannten Muskeln, vielleicht sogar in kräftiger, lebhafter
Aktion vorstellen. Der Schauspieler gibt uns mit seiner Person, mit seiner
Maske, seinem Spiel, seiner Stimme, mit dem ganzen szenischen Apparat,
der ihm zur Verfügung steht, eine Nachahmung, ein Scheinbild der Wirklich-
keit. Wir nehmen wahr den Schauspieler NN und glauben zu sehen den
Dänenprinzen Hamlet, wir sehen Pappe und Leinwand und glauben zu sehen
die Felsen der Wolfsschlucht, wir sehen mimische Aktion eines raffinierten,
seiner Wirkung völlig sicheren Künstlers und glauben zu sehen: Gefühl und
Leidenschaft, einen Charakter von bestimmter Art, Handlungen und Ereignisse,
die sich gar nicht in Wirklichkeit vor uns abspielen.

Und so in allen Künsten. Auch der Dichter und der Musiker und Tänzer
versetzen uns in die Vorstellung von Zuständen, die sich von der unmittelbar
wahrgenommenen Wirklichkeit unterscheiden, in ein Land der Phantasie, in
eine höhere, entlegene Region.

Man hat dies von jeher als künstlerische Illusion bezeichnet, und ich
habe diesen, der älteren Aesthetik ganz geläufigen Begriff der Illusion in
meinem „Wesen der Kunst" zur Grundlage eines ästhetischen Systems gemacht.
Es kam mir dabei besonders auf den Nachweis an, daß die künstlerische
Illusion nichts mit der wirklichen Illusion zu tun habe, daß sie keine wirk-
liche, sondern nur eine spielende, eine bewußte Selbsttäuschung sei. Ohne
mich hier auf eine Wiederholung dieses Beweises im einzelnen einlassen zu
können, will ich den Lesern dieser Zeitschrift nur eine genauere Vorstellung
von dem geben, was ich in den angewandten Künsten unter Illusion verstehe.
Denn hier wird der Begriff den meisten nicht so geläufig sein, wie in der

K. Lange,
Die Ent-
stehung
der deko-
rativen
Kunst-
formen.

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