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Stuttgarter Mitteilungen über Kunst und Gewerbe — 1905-1906

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Mayer, J.: Das neue Frauenkleid
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https://doi.org/10.11588/diglit.6371#0112
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J. Mayer,
Das neue
Frauen-
kleid.

Fig. 1. "Weiües Wollkleid mit Verzierung von Seiden- Fig.2. Grauviolettes Tuchkleid niitSamtapplikation,

band und Goldlitze. Entworfen und ausgeführt von Ton in Ton. Entworfen und ausgeführt von Anna

Anna Eichler, Zeichenlehrerin der Stuttgarter Frauen- Eichler in Stuttgart. D. Nr. 763.

arbeitsschule. D. Nr. 762

Auf den gesunden Menschenverstand zu hören, fällt aber den meisten Frauen,
wenn es sich um Kleiderfragen handelt, recht schwer und so stieß auch diese
erste Forderung auf großen Widerstand. Es war, als ob man mit dem Kor-
sett der Frau etwas ihr lieb Gewonnenes nehmen wollte. Freilich ist auch
der Schnürleib ein alteingesessen Ding. Er taucht schon um die Mitte des
14. Jahrhunderts in Spanien auf und soll von der Geistlichkeit diktiert worden
sein, um die Brust platt zu drücken und die sinnliche Freude an der Schön-
heit des Frauenkörpers abzutöten. Im 16. Jahrhundert hat er in Frankreich
die Bestimmung erhalten, die er mehr oder weniger heute noch hat: die
Brust in die Höhe und die Taille in die Enge zu schnüren.

Obwohl aber der damalige Schnürleib noch ein ganz anderes Marterwerk-
zeug war, als der heutige, dürfte er doch nicht soviel Schaden angerichtet
haben, wie das Korsett der modernen Frau. Von unseren gepanzerten Ahn-
frauen, wie sie uns in steifer, starrer Einzwängung aus den wurmstichigen
Bilderrahmen entgegensehen, kann angenommen werden, daß sie diese Panzer
nur zum Staatskleid trugen. Die moderne Frau aber trägt das Korsett vom
frühen Morgen bis zum späten Abend. Und bei der ländlichen Bevölkerung
war der Schnürleib bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts überhaupt
nicht gebräuchlich; von einer Schädigung des ganzen Volkes kann also erst
seit einigen Jahrzehnten gesprochen werden. Heute kleiden sich Bäuerinnen,
Arbeiterinnen und Dienstmädchen alle nach der gleichen Schablone, nach der

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