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Spranger, Peter
Der Geiger von Gmünd: Justinus Kerner und die Geschichte einer Legende — Schwäbisch Gmünd, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.43382#0015
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b die Legende vom Geiger von Gmünd noch in die heutige
Zeit paßt, darüber kann diskutieren, wer Lust hat. Wer will,
kann über die alte Sage lächeln, kann auch ein überlegenes
Wort der Kritik finden - eigentlich ist die ganze Sache doch
etwas naiv und abgestanden; kann sich noch stärker ins
Zeug legen, um sich und anderen den Geschmack an der
frommen Wundergeschichte nach Herzenslust zu vergäl¬
len. Vorbei sind freilich die Zeiten, als eine Art Geigeren-
thusiasmus in Stadt und Land immer anspruchsvollere Blüten trieb, in
Poesie und Prosa, für Männerchor und gemischten Chor, als Singspiel
und Schauspiel, als Melodrama und Oper; als Gmünder und Nicht-
gmünder in Scharen unentwegt Sonntag für Sonntag, Sommer für
Sommer ins nahe Taubental zogen, ins »waldkühle Taubental«1, um
das Volksstück von Hermann Streich auf eigens gestalteter Freilicht-
bühne zu erleben, eine echte, von großem Idealismus getragene Ge-
meinschaftsproduktion, die Gmünds Oberbürgermeister mit feinge-
stimmtem Organ für die mystischen Untertöne der Zeit deutete als
Ausdruck der »hungrig gewordenen Volksseele« nach all den erschüt-
ternden Ereignissen von Krieg und Umsturz. Damals hieß es wohl mit
einigem Recht: »Das Geigerlein ist in deutschen Landen der volkstüm-
lichste Gmünder geworden«2. Seitdem sind mehr als fünfzig Jahre ins
Land gezogen, darunter Schicksalsjahre, die den Boden des Bestehen-
den von Grund auf umgewühlt haben. Aber was man nicht für möglich
gehalten hätte: in den alten Wurzeln steckt noch immer Kraft. Munter
treiben sie bereits seit Jahren wieder ihre eigenwilligen Schößlinge3.
Bald entdeckt man den Geiger an einer versteckten Hauswand oder an
einem Fenster, begegnet ihm bei einem festlichen Umzug und, ganz zu-
fällig, im Garten eines heimatverbundenen Gmünders in den fernen
USA. Irgendwann macht ein unverstandenes Geigerbrunnenprojekt
von sich reden; dann reicht es wenigstens zu einem Ehrenring mit ein-
graviertem Geiger, zu einer Geigermünze oder einem Geigerstüble,
und schließlich soll ein neues Geigerspiel die alte Tradition fortsetzen:
nicht mehr das liebliche Volksstück von einst, sondern ein wendiges
Musical im old-Gmünd-look, angereichert mit saftigen Rosenmontags-
scherzen und gefertigt nach dem bewährten Erfolgsrezept: »Euch ist
bekannt, was wir bedürfen,/ Wir wollen stark Getränke schlürfen.« -
Erste Zwischenbilanz: Gmünds Geiger geigt noch immer.


II
 
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