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Spranger, Peter
Der Geiger von Gmünd: Justinus Kerner und die Geschichte einer Legende — Schwäbisch Gmünd, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.43382#0033
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Nochmals zurück zum Kümmernisbild aus der Josefskapelle. Es geht
um den Bericht auf der Schrifttafel über den Herkunftsort der Küm-
mernisverehrung in Holland, in einer Kirchen haist stangberg. Dieses
stangberg der Gmünder Inschrift - es findet sich, so oder ähnlich, auch
auf anderen Kümmernisbildern im süddeutschen Raum - ist identisch
mit dem holländischen Steenbergen (Provinz Nordbrabant), einem frü-
hen Zentrum der Kümmernisverehrung17. Erneut zu überprüfen bleibt
freilich Gustav Schnürers kühne Hypothese zur Entstehung des
Kümmerniskultes, sein brüchiger, immer wieder überaus kunstvoll
und geduldig geknüpfter Ariadnefaden im fast ausweglosen Labyrinth
der Kümmernisforschung: dort in Steenbergen hätten sich, vielleicht in
unmittelbarer Nähe, zwei ganz verschiedenartige Kruzifixe befunden;
das eine in den vertrauten Formen der Gotik, darstellend den leiden-
den Heiland mit Dornenkrone und Lendenschurz; das andere, fremd-
artige, vielleicht auch ältere: eine langgewandete, bärtige, gekrönte
Gestalt. Stellte auch sie den Gekreuzigten von Golgotha dar, oder wer
sonst war gemeint? Und dann die phantastische Erklärung, die ir-
gendwie jedoch durchaus folgerichtige Aitiologie aus der Perspektive
der Bewohner: die seltsame Gestalt trug ein langes Gewand - war also
eine Frau; trug eine Krone - stammte demnach aus königlichem Ge-
schlecht; hatte einen Bart - war also zugleich auch ein Mann! Eine erre-
gende Metamorphose, ein Wunder!18 Tatsache ist, daß Steenbergen
seine neue Heilige bekam.
Was die Bewohner des immer bekannter werdenden Wallfahrtsortes
noch nicht wußten, hat mittlerweile die Forschung aufgezeigt. Der
Bildtypus des bekleideten Gekreuzigten, wie er uns hier und an vielen
anderen Stellen begegnet, hat seine berühmteste Ausprägung erfahren
in dem schon einige Jahrhunderte zuvor im Dom von Lucca unweit
von Pisa hochverehrten wundertätigen Salvatorbild, dem Volto Santo'9.
Ob wir in seiner Nähe auch unserem Geiger begegnen werden? Schon
diese Aussicht lohnt eine Reise nach Italien.

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