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Die Götter

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längst aufgehört hatte, Wirklichkeit zu sein, und eine späte, aber
reiche Nachblüte. Anscheinend hat in dem Jahrhundert, das der Ein-
führung des Christentums voranging, eine ungemein liebevolle Be-
schäftigung sich der Göttersagen angenommen. Ja, selbst später noch
wandte man viel Sorgfalt an diese Erzählungen; nur war jetzt weni-
ger die schaffende Einbildungskraft, als der Sinn für (Ordnung des
Ererbten der leitende Antrieb. Wir besitzen aus dieser Zeit kurze An-
deutungen, die vielleicht immer etwas Rätselhaftes für uns behalten
werden; andererseits aber sind uns breit ausgeführte Erzählungen er-
halten, denen wir wohl die Bezeichnung „Götternovellen" geben
können.
Zu dieser zweiten Art von Geschichten gehört die Baldrsage. (Odin
wird von angstvollen Träumen gequält; er sucht sich Gewißheit zu
verschaffen über das bevorstehende Unheil. Er muß erfahren: Baldr
wird vom Tode bedroht! Ls wird der Beschluß gefaßt, allen Tieren,
Pflanzen und leblosen Dingen den Lid abzunehmen, daß sie diesem
jungen strahlenden Gotte keinen Schaden zufügen wollen. Freyja, die
mit diesem Auftrag in die Welt entsandt wird, kehrt frohgemut wie-
der. Die Stimmung der Götter steigt bis zum Jubel; in ihrem Über-
mut ersinnen sie ein Spiel. Baldr muß in die Mitte eines Rreises
treten, und alle Götter schießen aus ihn. Nichts aber kann ihn verletzen,
so daß die Ausgelassenheit der Götter ins Ungemessene wächst. Der
böse 8eind Loki vermag indessen den Gedanken nicht zu ertragen, daß
es ein Wesen gebe, dem kein Übel etwas anzuhaben vermag; er ver-
steht es, 8reyja das Geständnis zu entlocken, sie habe einer einzigen
Pflanze, dem schwachen, schlanken, auf Bäumen wuchernden Mistel-
strauch, den Lid nicht abverlangt. Rasch weiß Loki einen Mistelzweig
zu pflücken und drückt ihn dem blinden Hodr, der selber am Spiel nicht
teilnehmen kann, in die Hand. Der Stengel wird geworfen und von
Lokis Hand gelenkt; er verwandelt sich in einen Speer, und Baldr
stürzt tot zu Boden.
8assungslos sehen die Äsen diesem Schicksalsschlag zu. wegen der
Heiligkeit des (Ortes können sie den Missetäter nicht strafen. Ebenso
wenig vermögen sie Baldr ins Leben zurückzurufen, während sie das
Begräbnis des Götterjünglings aufs glänzendste vorbereiten, senden
sie Hermod in das Totenreich, um von dessen Gebieterin Hel die Gunst
zu erbitten, daß Baldr die Wiederkehr erlaubt sein möge. Donnernd
dröhnen die Hufe von Hermods Pferd über die Brücke zur Höllen-
 
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