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Die Baldrsage

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pforte; wenige Augenblicke vorher waren dichte Totenscharen ihm
geräuschlos vorangegangen. Die Bitte -er Götter findet günstiges
Gehör. Hel ist bereit, Baldr wieder gehen zu lassen, wenn es sich in
der Tat erweist, daß Baldr sich der innigen Liebe, von der die Götter
sprechen, erfreut, wenn die ganze Natur über ihn weint, so darf er
befreit werden. Mit dieser Nachricht kommt Hermod zurück, und es
scheint den Göttern, daß diese Bedingung nicht schwer zu erfüllen sei.
Alle beseelten und alle unbeseelten Wesen weinen — ihr habt ja wohl
einmal einen Stein feucht werden sehen, wenn er aus der Wärme
ins Aalte gebracht wurde? — Alle Wesen, mit Ausnahme einer alten
Frau, die trockenen Auges in einer Höhle saß und sagte, Hel möge nur
behalten, was sie bekommen hatte. Man nannte sie „Dank", aber man
glaubte, daß es Loki war.
So bleibt denn Baldr in der Totenwelt; Loki aber wird streng be-
straft. Gebunden liegt er im Herzen der Erde unter tropfendem Gift.
Linst aber werden beide ihre Befreiung erleben; Loki wird dann seine
verderblichen Pläne ausführen können, und Baldr wird in einer neu-
geschaffenen Welt als Gott herrschen. So wird also das Drama um
Baldr ein Glied in der Aette der Weltgeschichte. Sein Tod ist das
Zeichen, daß die Mächte des Bösen den Sieg erringen werden und daß
Ragnarök nahe ist.
Aein zweiter germanischer Mythos hat so ergreifende Züge wie
diese Geschichte Baldrs. Der Tod des unschuldigsten aller Äsen, die
Verzweiflung der Götter, der vergebliche Unterweltsritt Hermods,
der Prunk des Begräbnisses, alles wirkt zusammen zum Bilde eines
großangelegten, eindrucksvollen Geschehens. Man fühlt, daß durch
Baldrs Fall die Welt aus den Angeln gerät.
Andererseits stellt uns aber auch kein anderer Mythos vor so viele
Rätsel. So nahe die Sage uns durch den erhabenen Gedanken berührt,
der sich in ihr verkörpert, so vermögen wir uns doch von der Emp-
findung nicht zu befreien, daß wir hier vor einer nicht mehr rein ger-
manischen Schöpfung stehen. Der scharfe, auf zwei Personen gegrün-
dete Gegensatz zwischen dem fleckenlosen Baldr und dem grundbösen
Loki stellt in einer Weise, der wir sonst bei dem alten Heidentum nicht
zu begegnen pflegen, sittliche werte einander gegenüber. Das Ver-
gießen von Tränen ist das äußere Zeichen einer Weichheit, die das ger-
manische Schrifttum sonst kaum zu kennen scheint. Außerdem begegnen
wir mehreren Lrzählungsmotiven, die auch außerhalb der germani-
 
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