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Die Götter

rso
schen Sagenwelt vorkommen und die daher den Eindruck des Ent-
lehnten machen. Endlich ist die ganze Erzählung in dieser Ausführ-
lichkeit nur in recht späten Quellen überliefert, Quellen, die von christ-
licher Hand gefaßt wurden. Ziehen wir hierbei noch in Betracht, daß
kein anderer Mythos so reiche Verschiedenheit der Linzelvorgänge mit
so starker Einheit des Gedankens vereinigt, so beschleicht uns von
neuem der Zweifel, ob wir hier vor einem echten, altheidnischen Ge-
bilde stehen.
Man hat in Baldr eine Art Lhristusgestalt erblicken wollen, die in
den letzten Tagen des Heidentums in eigenartiger weise mit der ger-
manischen Sagenwelt verflochten wurde. Man hat ferner eine beson-
dere Entwicklung des Volksglaubens angenommen, der sich an die
mistelbewucherte Eiche knüpft, wieder andere haben einen unmittel-
baren Zusammenhang mit westasiatischen 8ruchtbarkeitsgöttern ver-
mutet, die auch sterben müssen und deren Tod ebenfalls allgemeine
Trauer erweckt. Leine einzige dieser Annahmen vermag indessen den
Baldrmythos als Ganzes zu erklären. In der Überzeugung, daß
fremde Einflüsse hier eingewirkt haben, lassen wir uns nicht beirren;
als Ganzes betrachtet, macht aber die Baldrsage doch den Eindruck,
daß sie noch eine Schöpfung des germanischen Heidentums ge-
wesen ist.
Doch auch ohne daß wir genau anzugeben vermöchten, aus wel-
chen wurzeln diese Wunderblume der Sage erwachsen ist, dürfen wir
sie in ihrem Blütenreichtum bewundern und genießen. Die Baldr-
sage möge in den Rahmen der Glaubensvorstellungen, die wir aus
den Quellen abgeleitet haben, sich noch so schlecht einfügen, sie bleibt
darum doch die edle und reine Schöpfung eines dichterischen Geistes.
Dieser Erzählung kann man es nicht ansehen, daß sie aus verschieden-
artigen und vielleicht sehr auseinanderfallenden Einzelheiten aufge-
baut ist. Und wenn sie auch noch so sehr das Werk dichterischer Ein-
bildungskraft sein mag, so hat sie sich doch einen Platz erobert unter
den Vorstellungen, die die Nordgermanen sich von den letzten Dingen
geschaffen haben. Ia, sie hat diesen Vorstellungen selber eine tie-
fere Bedeutung verliehen. Nicht nur dann ist ein Mythos für
uns von wert, wenn wir seinen urtümlichen Ursprung nach-
weisen und seine Weiterentwicklung Schritt für Schritt verfol-
gen können. Seine Bedeutung liegt vor allem in der Rolle, die
er in dem weltanschaulichen, weltumfassenden Denken seines Zeitab-
 
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