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Raphaels Farbe - Geschichte ihrer Betrachtung

nischer Schulübungen zum Studium der neuen Koloristik« zu sehen vermag
(S. 506), und den venezianischen Einfluß im Farbigen als »ein Zeichen der Deka-
denz« und als »Senkung der moralischen Grundlagen« bewertet (S. 304), dann ist
dies nur in Zusammenhang mit Reihers lebensanschaulicher Überzeugung zu
verstehen, in jeglicher Art von Koloristik »eine Art Betrug zu erkennen: Schminke
auf einem leeren Gesicht. Der Verfall des Kunstwerks in dieser Richtung beginnt in
Venedig.« (S. 505)

An diesem Beispiel wird auch klar, daß die Geschichte der Urteile über Raphaels
Farbe stets auch die kritische Frage nach dem Begriff von Farbe, nach den metho-
dischen Grundlagen und nach dem kunsttheoretischen und kulturgeschichtlichen
Hintergrund dieser Aussagen aufwerfen muß, auch wenn dies oft nur andeutungs-
weise geschehen kann: Der Begriff von Farbe ist keine statische Größe, sondern
unterliegt selbst dem historischen Wandel. In jeder Anschauung steckt schon ein
Entwurf von Anschauung, kommen auch die Vorbegriffe und Absichten desAnschau-
enden zum tragen. Die wechselnden Zusammenhänge zwischen ästhetischen
Präsumptionen, Farbbegriff und ästhetischem Urteil bilden die methodisch inter-
essanten Axiome in der Rezeption von Raphaels Farbe, die alles andere als eine
linear verlaufende Geschichte fortschreitender Annäherung ist, sondern zahlreiche
Widersprüche, Kontroversen und Paradigmenwechsel umfaßt.

Gerade die Wende- und Knotenpunkte in der Rezeptionsgeschichte von Raphaels
Farbe sind durch die Auswahl und Gewichtung der Quellen besonders berücksich-
tigt: So ist zu fragen, wie es nach dem fast uneingeschränkten Ruhm von Raphaels
Farbe bis zum Ende des 16. Jahrhunderts zu der in dieser Hinsicht gleichgültigen
bis ablehnenden Haltung im Umkreis der französischen Akademie im 17. Jahrhun-
dert kommen konnte, in der auch entscheidende Grundlagen für das negative Urteil
über Raphaels Kolorit in den anschließenden Jahrhunderten gelegt wurden. Diese
Abwertung der Farbe in Raphaels Malerei verstärkt sich im 18. Jahrhundert vor
allem in der Kunstliteratur des deutschen Klassizismus, u. a. in den einflußreichen
Schriften Winckelmanns. Erst mit der entschiedenen Kritik an den klassizistischen
Kunstanschauungen bei Schelling und Friedrich Schlegel setzt am Beginn des
19. Jahrhunderts eine Rückbesinnung auf die Bedeutung von Raphaels Kolorit ein.
Dieser positiven Neubewertung schließen sich mit unterschiedlich vermittelnden
Positionen Goethe und Hegel, später - auf dem Boden der entstehenden Kunstwis-
senschaft - Rumohr und Passavant an. Der für den Forschungsverlauf im 20. Jahr-
hundert folgenreichste Paradigmenwechsel für die Bewertung von Raphaels Farbe
vollzieht sich schließlich um die Jahrhundertwende in einer von den Beiträgen
Heinrich Wölfflins bestimmten Forschungsdiskussion, in der parallel zur Verkür-
zung des Begriffs der Farbe auf einen >Grundbegriff< des >Malerischen<, Raphaels
Malerei innerhalb von nur zwei Jahrzehnten erneut von einem Paradigma des
>Malerischen< zu einem Paradigma des >Unmalerischen< wird.

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