Zun BlLDMETAPHORIK DES GÖTTLICHEN IN RäPHAELS MADONNEN
obendrein historisch nicht angemessen ist. Denn gerade die ästhetische Gestalt des
Bildes kann vor dem Hintergrund einer differenzierten theologischen Sichtbarkeits-
metaphorik im frühen 16. Jahrhundert in neuer Weise auch als theologisches
Argument verstanden werden. Der in Raphaels Madonnenbildern durch seine
metaphorische Deutung und erzählerische Verlebendigung angelegte bildpoetische
Gehalt der theologischen Themen bildet kein Symptom einer fortschreitenden
Verweltlichung, sondern gehört vielmehr in den geistesgeschichtlichen Horizont
einer mit neuen künstlerischen Mitteln intensivierten »devotio moderna« , in deren
Zentrum - wie von Dolce gekennzeichnet - die verstehende Anschauung des indi-
viduellen Betrachters steht. Wichtiges Kennzeichen dieser neuen Beziehung des
Bildes zum Betrachter ist eine Blickregie, mit deren Hilfe Raphael das Sehen und
Verstehen des Betrachters steuert, verbunden mit einer metaphorischen Deutung
der theologischen Gehalte und ihrer narrativen Entfaltung. Daß sich dabei »das
religiöse Thema [...] vom Künstler nur noch erfinden«' ließ, und sich das Madon-
nenbild in diesem Zuge im frühen 16. Jahrhundert im allgemeinen und in Raphaels
Malerei im besonderen auf ein »ästhetisches Produkt« reduziere , wie Hans Belting
in seiner These von der »Krise des Bildes am Beginn der Neuzeit« formulierte, ist
eine moderne Sicht, die - wie zu zeigen ist - an den zeitgenössischen metaphori-
schen Implikationen dieser Bilder vorbeigeht. Raphael hat vielfach an alte Bildthe-
schweigsamen und sehr schönen Weibes, das ihren Erstgeborenen im Arme trägt.
Mögen die Alten, die an das Beten und Anbeten gewöhnt sind, hier, gleich dem ehrwür-
digen Greise zur Linken, etwas Uebermenschliches verehren: wir Jüngeren wollen es,
so scheint Raffael uns zuzurufen, mit dem schönen Mädchen zur Rechten hallen, welche
mit ihrem auffordernden, durchaus nicht devoten Blicke den Betrachtern des Bildes sagt:
»Nicht wahr? diese Mutter und ihr Kind - das ist ein angenehmer ein ladender Anblick?«
(F. Nietzsche, op. eil., S. 585).
1 Hierzu allgemein G. Romano, Aul'dem Weg zur »modernen Manier«, 1987, S. 301 ff. Mit
Recht hat .1. Pope-Hennessy (Raphael, 1970, S. 175) mit Blick auf die Madonnenbilder
darauf hingewiesen, »that Cor Raphael form and content were indivisible«. Auch
K. M. Swoboda (Raffaels Madonna im Grünen, 1969, S. 193) zeigt ausgehend von
Raphaels Madonna im Grünen, wie wenig Raphael in seinen vorrömischen Madonnen-
bildern die theologischen Gehalte und Traditionen preisgibt, sondern diagnostiziert eine
»Auflösungdes Kultbildes in ein mystisches Stimmungsbild«. Swobodas Feststellung, daß
»eine zusammenhängende Geschichte der in der Frömmigkeit des Gebetes und der
Andachtsliteratur dichterisch geprägten Vorstellungen von Maria und dem Kinde und
ihre allmähliche bildliche Realisierung in den verschiedenen Kunstlaiidschaften [...]
noch nicht geschrieben« ist (S. 182), ist nach wie vor gültig. Siehe hierzu jüngst auch
J. Traeger (Renaissance und Religion, 1997).
5 H. Belting, Bild und Kult, 1991, S. 511.
6 Ebd., S. 522. Vgl. S. Ferino Pagden, From eult images to the eult of images, 1990,
S. I651T.
7 II. Belting, Bild und Kult, 1991, S. 510.
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obendrein historisch nicht angemessen ist. Denn gerade die ästhetische Gestalt des
Bildes kann vor dem Hintergrund einer differenzierten theologischen Sichtbarkeits-
metaphorik im frühen 16. Jahrhundert in neuer Weise auch als theologisches
Argument verstanden werden. Der in Raphaels Madonnenbildern durch seine
metaphorische Deutung und erzählerische Verlebendigung angelegte bildpoetische
Gehalt der theologischen Themen bildet kein Symptom einer fortschreitenden
Verweltlichung, sondern gehört vielmehr in den geistesgeschichtlichen Horizont
einer mit neuen künstlerischen Mitteln intensivierten »devotio moderna« , in deren
Zentrum - wie von Dolce gekennzeichnet - die verstehende Anschauung des indi-
viduellen Betrachters steht. Wichtiges Kennzeichen dieser neuen Beziehung des
Bildes zum Betrachter ist eine Blickregie, mit deren Hilfe Raphael das Sehen und
Verstehen des Betrachters steuert, verbunden mit einer metaphorischen Deutung
der theologischen Gehalte und ihrer narrativen Entfaltung. Daß sich dabei »das
religiöse Thema [...] vom Künstler nur noch erfinden«' ließ, und sich das Madon-
nenbild in diesem Zuge im frühen 16. Jahrhundert im allgemeinen und in Raphaels
Malerei im besonderen auf ein »ästhetisches Produkt« reduziere , wie Hans Belting
in seiner These von der »Krise des Bildes am Beginn der Neuzeit« formulierte, ist
eine moderne Sicht, die - wie zu zeigen ist - an den zeitgenössischen metaphori-
schen Implikationen dieser Bilder vorbeigeht. Raphael hat vielfach an alte Bildthe-
schweigsamen und sehr schönen Weibes, das ihren Erstgeborenen im Arme trägt.
Mögen die Alten, die an das Beten und Anbeten gewöhnt sind, hier, gleich dem ehrwür-
digen Greise zur Linken, etwas Uebermenschliches verehren: wir Jüngeren wollen es,
so scheint Raffael uns zuzurufen, mit dem schönen Mädchen zur Rechten hallen, welche
mit ihrem auffordernden, durchaus nicht devoten Blicke den Betrachtern des Bildes sagt:
»Nicht wahr? diese Mutter und ihr Kind - das ist ein angenehmer ein ladender Anblick?«
(F. Nietzsche, op. eil., S. 585).
1 Hierzu allgemein G. Romano, Aul'dem Weg zur »modernen Manier«, 1987, S. 301 ff. Mit
Recht hat .1. Pope-Hennessy (Raphael, 1970, S. 175) mit Blick auf die Madonnenbilder
darauf hingewiesen, »that Cor Raphael form and content were indivisible«. Auch
K. M. Swoboda (Raffaels Madonna im Grünen, 1969, S. 193) zeigt ausgehend von
Raphaels Madonna im Grünen, wie wenig Raphael in seinen vorrömischen Madonnen-
bildern die theologischen Gehalte und Traditionen preisgibt, sondern diagnostiziert eine
»Auflösungdes Kultbildes in ein mystisches Stimmungsbild«. Swobodas Feststellung, daß
»eine zusammenhängende Geschichte der in der Frömmigkeit des Gebetes und der
Andachtsliteratur dichterisch geprägten Vorstellungen von Maria und dem Kinde und
ihre allmähliche bildliche Realisierung in den verschiedenen Kunstlaiidschaften [...]
noch nicht geschrieben« ist (S. 182), ist nach wie vor gültig. Siehe hierzu jüngst auch
J. Traeger (Renaissance und Religion, 1997).
5 H. Belting, Bild und Kult, 1991, S. 511.
6 Ebd., S. 522. Vgl. S. Ferino Pagden, From eult images to the eult of images, 1990,
S. I651T.
7 II. Belting, Bild und Kult, 1991, S. 510.
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