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Kriterien der historia bei Vasari und Dolce

an diesem Punkt so groß gewesen, daß er jede seiner Historien skizzierend auf vier
bis sechs voneinander verschiedene Arten (modi) entworfen habe 2". Diese interes-
sante Feststellung, daß Raphael die thematische Erfindung seiner Historien bewußt
modal variierte, läßt sich auch auf Raphaels Koloristik, z. ß. in seinen beiden
Darstellungen des Kampfes des Hl. Georgs mit dem Drachen 2I beziehen: So
unterstreicht Raphael in seiner 1504/5 entstandenen Darstellung im Louvre die
Dramatik der zugespitzten Kampfsituation zwischen dem Heiligen und dem ihn
bedrängenden Drachen durch eine lebhaft kontrastierende Farbigkeit aus Rot und
Weiß an der zerbrochenen Lanze, am Pferd und am Sattelzeug. Demgegenüber ist
das 1507 entstandene und heute in Washington befindliche Bild des überlegen den
Drachen mit der Lanze besiegenden Heiligen auch in seiner Koloristik stärker
beruhigt: Das Sattelzeug ist der Rüstung farbig angeglichen, und Rot erscheint hier
nur an der im Typus einer betenden Heiligenfigur dargestellten Prinzessin. Neben
dem >eigenen Wesen< (aria) und den Stellungen der einzelnen Figuren (allitudini)
lobt Dolce an Raphaels Historien vor allem die Zusammenstellung (componimen-
to), die angemessen und würdig sei22. Wie Vasari hebt Dolce hervor, daß Raphael
die historia künstlerisch als Ganzheit gestaltet habe und er verwendet zu deren
Charakterisierung die Metapher des >Leibes<: »in tutto il contenimento della istoria
[...] si faccia un corpo che non discordi«23. Durch diese Kunst seiner Erzählung habe
Raphael in seinen Historien »die Geschichtsschreiber in einer Weise erreicht[...|,
dass oft das Urteil der Kenner sich zur Ansicht verleiten lässt, dieser Maler habe in
seinen Bildern die Ereignisse besser dargestellt, als die Schriftsteller es in ihren
Werken getan, oder sei wenigstens gleichen Schritt mit ihnen gegangen.«24 Diese
Rühmung Raphaels als vorbildlicher Erzähler ist mehr als eine rhetorische Variati-
on des >ut pictura poesis<-Topos auf dem Boden des Paragones der Künste, wie z. B.
bei Leonardo, wenn dieser allgemein feststellt: »La pittura e una poesia che si vede

2n Ebd., S. 170: »Rafaello, il quäle fu tanto ricco d' invenzione, che faceva sempre a quattro
e sei modi, differenti I' uno dall' altro, una istoria, e tutti avevano grazia e stavano bene.«

21 Siehe hierzu die Werkangaben auf S. 405, Anm. 5.

22 L. Dolce, Dialogo della pittura, 1960, S. 192: »E sono tutti di aria e cli attitudini diverse,
e bellissimi. In questocomponimento Rali'aello haserviloalla istoria, alla convenevolezza
et all' onesto.«

23 L. Dolce, Dialogo della pittura, 1960, S. 168. Es sei hier nur angemerkt, daß es damit
einen historischen Bezugspunkt für den von T. Hetzer (Tizian. Geschichte seiner
Farbe, 1969, S. 122f., 129ff.) eingeführten Terminus des »Bildleibes« gibt, mit dem dieser
denneuen Bildbegriff im 16. Jahrhundert charakterisierte. Freilich hatsich Iletzernichi
um eine solche historische Ableitung gekümmert.

24 L. Dolce, Dialog über Malerei, 1970, S. 72.

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