Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Die zeitliche Struktur der Erzähl

UNG

Anschau ung aus dieser hervor, je nachdem, in welchem narrativen Zusammenhang
Silvanus gelesen wird. Damit ist zugleich der zeitliche Rahmen eines komplexen
Geschehens skizziert, das Raphael in neuartiger Form mit farhkompositorischen
und -metaphorischen Mitteln als narrativen Prozeß strukturiert, wie Dolce forderte,
»disponendo ordinatissimamente le chose nel modo che eile seguirono«'', und das
sich hier im Modus des Dramatischen entfaltet. Diese Dramatik hat Raphael
farbkompositorisch auch durch die zwischen Silvanus und den Umgehenden ange-
legte Polarität zwischen den unbunten und bunten Farben gesteigert: Spannungs-
voll stehen dem solitären Grau an Silvanus im Zentrum die lebhaften Buntwerte der
Häretiker gegenüber, die sich zu Farbklängen an den Bildseiten zusammen-
schließen. Primärtriadische Farbsequenzen schließen sich in der Betrachtung zu-
sammen, unterstützen die Dynamik des lebhaften Geschehens, indem z. B. die
Beine des Scharfrichters mit denjenigen der beiden Fliehenden in einem geradezu
choreographisch rhythmisierten Ornament aus einer Folge von Blau, Gelb und Rot
verbunden sind. Obendrein ist der Scharfrichter auch farbtriadisch nach oben auf
den in das Geschehen eingreifenden Hieronymus bezogen, wodurch er in seinem
Agieren ähnlich wie die Figur des Silvanus zeitlich doppeldeutig wird: Nur in Kopf
und Schwertarm ist diese Figur als zum Schlag ausholender Scherge zu lesen, in
der Wendung ihres Oberkörpers, der Beine, Füße und des vorgestreckten vorderen
Armes scheint sie dagegen schon als dynamisch nach links drängende Fluchtfigur,
enthält auf diese Weise zeitlich eine Zukunftsdimension, die Raphael durch den
kompositioneilen Zusammenhang auf die Gegenwart der Fliehenden erzählerisch
vermittelt hat t8. Es ist wichtig, diese anschaulichen Beziehungen und Doppelwer-
tigkeiten, die aus den kunstvoll auskomponierten Inkongruenzen zwischen der
Figural- und Farbkomposition als narrativen Verknüpfungen entstehen, genau zu
analysieren. Denn sie sind konstitutive Elemente der erzählerischen Struktur, die
Raphael erst zum »poeta mutolo« machen. Aus diesen Verschiebungen entsteht
überdies eine Mannigfaltigkeit, die nicht Ergebnis der farbigen Vielfalt der Palette,
sondern der kunstvoll strukturierten Farbkomposition ist. Die vergleichsweise eng
begrenzte Skala der gewählten Töne wird so auf eine kompositorisch-narrative
Komplexität hin entfaltet, die nicht mehr - wie noch bei Perugino so oft - auf
einfache Prinzipien der Farbensymmetrie oder Wechselfarbigkeit reduzierbar ist.
Die im Quattrocento motivisch erzeugte varietä ist hier in eine Mannigfaltigkeit

47 L. Dolce, Dialogo della pittura, 1960, S. 166.

IN Daß diese Ambiguität des Körpermotivs thematisch zu verstehen und nicht als stilistische
►Unzulänglichkeit* zu bewerten ist, zeigt der Vergleich mit dem wenig später entstande-
nen ///. Michael (Abb. 6), der bei ansonsten eng verwandter Figurenbildung ohne die
Doppeldeutigkeit der Schergenfigur gestaltet ist.

419
 
Annotationen