Raphael als >poeta mutolo<
erscheint gleichsam gewaltsam herausgekjppt aus der Buntfarbigkeit der Umste-
henden, diskontinuierlich umbrechend zur Unfarbigkeit des Silvanus, ist
schließlich als Farbfigur fragmentiert. Auf diese Weise hat Raphael das drastische
Schicksal des Häretikers Sahinianus unmittelbar vor Augen gestellt. Die narrative
Struktur dieser auch farhkompositionell herbeigeführten Wendung der Bilderzäh-
lung, in der Sabinianus unerwartet die Silvanus zugedachte Hinrichtung seihst
trifft, ist nichts anderes, als eine Peripetie im aristotelischen Sinne, und diese
stimmt in überraschenderweise sogar mit den Beispielen überein, die Aristoteles
in seiner Poetik zur Peripetie einer tragischen Handlung gibt: »Die Peripetie ist |...]
der Umschlag dessen, was erreicht werden soll, in das Gegenteil, und zwar, wie wir
soehen sagten, gemäß der Wahrscheinlichkeit oder mit Notwendigkeit. [...] im
>Lynkeus< wird der eine abgeführt, um zu sterben, während der andere - Danaos -
ihn begleitet, um ihn zu töten; doch die Ereignisse führen dazu, daß dieser stirbt
und jener gerettet wird.«5Ü Genau diese überraschende Wendung besiegelt auch das
Schicksal des Sahinianus !
Auch die von Aristoteles geforderte Verbindung der Peripetie mit dem Prozeß
einer geistigen Erkenntnis, dem »Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis, mit der
Folge, daß Freundschaft oder Feindschaft eintritt, je nachdem die Beteiligten zu
Glück oder Unglück bestimmt sind«57, hat Raphael konsequent und auf die von
Aristoteles empfohlene Weise in seiner Erzählung eingelöst: »Am besten ist die
Wiedererkennung, wenn sie zugleich mit der Peripetie eintritt«58. Diesen Prozeß
veranschaulichen die mit Silvanus Gleichgesinnten59, die planimetrisch direkt über
5(i
Aristoteles, Poetik, 1982, 1452a.
37 Ebd. 1452a. Vgl. auch R. Preimesberger, Tragische Motive, 1987, S. 112.
58
5!)
Aristoteles, Poetik, 1982, 1452a.
Diese Figuren können nicht auf gesicherter Basis mit Namen genannt werden. Immer-
hin gibt eine Figurenstudie von Raphael (Ashmolean Museum, Inv.-Nr. P II 509, Abb.:
E. Knab, E. Mitsch, R. Oberhuber, Raphael. Die Zeichnung, 1983, Nr. 72) in dieser
Frage zu denken: Die aus stilistischen und motivischen Gründen von K. T. Parker
(Catalogue of the Collection of Drawings, 1956, Nr. 509) auf die Magdalena der llaupt-
tafel des Christus am Kreuz (Abb. 40) bezogene Studie, läßt sich mit mehr anschauli-
cher Evidenz als Vorstudie zu dem Knienden der Predella begreifen, zu dem in erster
Linie nur Unterschiede im Armmotiv bestehen; dieses Arm- und llandmotiv wird im
übrigen in der verwandten Kniefigur am rechten Rand der ursprünglich benachbarten
Predella (Abb. 49) aufgegriffen. Interessant ist nun, daß diese Kniengurin der Zeichnung
einen Heiligenschein trägt, die 6cv Kniende in der Predellenszene nicht besitzt. Genau
dies muß aber nicht gegen einen genetischen Zusammenhang mit der Kniefigur spre-
chen (so D. A. Brown, Raphael and America, 1983, S. 188, Anm. 14), sondern könnte
darauf hinweisen, daß Raphael zunächst versucht hat, hier die in der Legendenerzäh-
lung ebenfalls im Disput mit Sabinianus aufgeführte Figur des III. Cyrillus neben
Silvanus darzustellen, diesen Plan dann aber um der erzählerischen Klarheit Willen auf-
422
erscheint gleichsam gewaltsam herausgekjppt aus der Buntfarbigkeit der Umste-
henden, diskontinuierlich umbrechend zur Unfarbigkeit des Silvanus, ist
schließlich als Farbfigur fragmentiert. Auf diese Weise hat Raphael das drastische
Schicksal des Häretikers Sahinianus unmittelbar vor Augen gestellt. Die narrative
Struktur dieser auch farhkompositionell herbeigeführten Wendung der Bilderzäh-
lung, in der Sabinianus unerwartet die Silvanus zugedachte Hinrichtung seihst
trifft, ist nichts anderes, als eine Peripetie im aristotelischen Sinne, und diese
stimmt in überraschenderweise sogar mit den Beispielen überein, die Aristoteles
in seiner Poetik zur Peripetie einer tragischen Handlung gibt: »Die Peripetie ist |...]
der Umschlag dessen, was erreicht werden soll, in das Gegenteil, und zwar, wie wir
soehen sagten, gemäß der Wahrscheinlichkeit oder mit Notwendigkeit. [...] im
>Lynkeus< wird der eine abgeführt, um zu sterben, während der andere - Danaos -
ihn begleitet, um ihn zu töten; doch die Ereignisse führen dazu, daß dieser stirbt
und jener gerettet wird.«5Ü Genau diese überraschende Wendung besiegelt auch das
Schicksal des Sahinianus !
Auch die von Aristoteles geforderte Verbindung der Peripetie mit dem Prozeß
einer geistigen Erkenntnis, dem »Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis, mit der
Folge, daß Freundschaft oder Feindschaft eintritt, je nachdem die Beteiligten zu
Glück oder Unglück bestimmt sind«57, hat Raphael konsequent und auf die von
Aristoteles empfohlene Weise in seiner Erzählung eingelöst: »Am besten ist die
Wiedererkennung, wenn sie zugleich mit der Peripetie eintritt«58. Diesen Prozeß
veranschaulichen die mit Silvanus Gleichgesinnten59, die planimetrisch direkt über
5(i
Aristoteles, Poetik, 1982, 1452a.
37 Ebd. 1452a. Vgl. auch R. Preimesberger, Tragische Motive, 1987, S. 112.
58
5!)
Aristoteles, Poetik, 1982, 1452a.
Diese Figuren können nicht auf gesicherter Basis mit Namen genannt werden. Immer-
hin gibt eine Figurenstudie von Raphael (Ashmolean Museum, Inv.-Nr. P II 509, Abb.:
E. Knab, E. Mitsch, R. Oberhuber, Raphael. Die Zeichnung, 1983, Nr. 72) in dieser
Frage zu denken: Die aus stilistischen und motivischen Gründen von K. T. Parker
(Catalogue of the Collection of Drawings, 1956, Nr. 509) auf die Magdalena der llaupt-
tafel des Christus am Kreuz (Abb. 40) bezogene Studie, läßt sich mit mehr anschauli-
cher Evidenz als Vorstudie zu dem Knienden der Predella begreifen, zu dem in erster
Linie nur Unterschiede im Armmotiv bestehen; dieses Arm- und llandmotiv wird im
übrigen in der verwandten Kniefigur am rechten Rand der ursprünglich benachbarten
Predella (Abb. 49) aufgegriffen. Interessant ist nun, daß diese Kniengurin der Zeichnung
einen Heiligenschein trägt, die 6cv Kniende in der Predellenszene nicht besitzt. Genau
dies muß aber nicht gegen einen genetischen Zusammenhang mit der Kniefigur spre-
chen (so D. A. Brown, Raphael and America, 1983, S. 188, Anm. 14), sondern könnte
darauf hinweisen, daß Raphael zunächst versucht hat, hier die in der Legendenerzäh-
lung ebenfalls im Disput mit Sabinianus aufgeführte Figur des III. Cyrillus neben
Silvanus darzustellen, diesen Plan dann aber um der erzählerischen Klarheit Willen auf-
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