Grabtragung Christi
hinaus eine so feingliedrig motivisch und plastisch detaillierte Landschaft wie die
Grabtragung, in der der Mittelgrund dicht hesetzt, die Bodentopographie im Idaren
Licht an jedem Punkt bestimmt und noch das Gebirge in der Ferne körperlich
durchgeformt ist. Die verbleibenden potentiellen Leerstellen am Boden hat Raphael
mit Pflanzen, die am Himmel mit körperlichen Cumuluswolken bedeckt. Selbst die
Dunkelöffnungen der Grabeshöhle und unterhalb von Maria sind fest plastisch
umgrenzt. Dieses Ideal der Vollkommenheit ohne Unbestimmtheit in der maleri-
schen Ausführung der Grabtragung Christi hat Raphael niemals vorher und auch
nicht in seiner Malerei der römischen Jahre mit ihrem vermehrten Helldunkel und
der zunehmenden malerischen Freizügigkeit der Ausführung gestaltet, und sicher-
lich war es gerade dies, was wie in keinem zweiten vorrömischen Werk Raphaels
eine antiakademisch orientierte Kritik provozierte" . Innerhalb der von Lodovico
Dolce markierten farbgestalterischen Extreme einer zu ausgeprägten weichen
Unbestimmtheit (vaghezza) und einer zu harten Glätte (politezza) tendiert die
Farbgestaltung der Grabtragung in für Raphael ungewöhnlicher Weise zur poli-
tezza hin2'4, vor der auch Dolce den Maler mit einem antiken Beispiel warnte:
»Risogna sopra tutto fuggire la troppa diligenza, che in tutte le cose nuoce. Onde
Apelle soleva dire che Protogene (se io non prende errore) in ciascuna parte del
dipingere gli era eguale e forse superiore; ma egli in una cosa il vinceva, e questa
era ch' ei non sapeva levar la mano dalla pittura.«
Gerade im Vergleich mit der hohen farbgestalterischen Ausführungsdichte der
Grabtragung wird man sich der wichtigen Funktion anschaulicher >Leerstellen< in
den übrigen Rildern Raphaels bewußt, der unbesetzten Bodenbereiche im Sposali-
zio, in der Pala Ansidei (Abb. 47) oder der Marienkrönung, der idealen Abstraktheit
der Ilimmelsflächen der Pala Colonna (Abb. 46), des Christus am Kreuz (Abb. 40)
213 Gerade auch mit Blick auf ihre Koloristik wurde die Grabtragung seit K. F. v. Rumohr
(Italienische Forschungen, Bd. III, 1827-31, S. 691.) u. a. von II. Wölfflin (Die Klassi-
sche Kunst, 1899, S. 85f.), 0. FiSCHEL (Raphael, 1962, S. 40I.) und in der jüngeren
Forschungz. B. von P. L. De Vecchi (Raffaello, 1981, S. 50), J. H. Beck (RalTael, 1981,
S. 92) oder von M. B. Hall (Color and meaning, 1992, S. 192) negativ beurteilt. Nicht
selten spiegeln sich freilich in diesen Wertungen inadäquate ästhetische PräsumptJo-
nen, die in Kapitel II wissenschaftsgeschichtlich eingeordnet werden (S. 1051'.). Als
vollendetes Meisterwerk wurde die Grabtragung unter klassizistischen Vorzeichen im
17. und 18. Jahrhundert geleiert (siehe eine Zusammenfassung der Urteile hei M. Eb-
hardt, Die Deutung der Werke Raffaels, 1972, S. 168-174), danach abwägend von
J. Burckhardt (Der Cicerone, 1986, S. 448), W. Kelber (Raphael von Urbino, 1979,
S. 111) und in der neueren Forschung u. a. von K. Oberhuber (Raffaello, 1982, S. 45f.)
gewürdigt.
214 L. Dolce, Dialogo della pittura, 1960, S. 185.
215 L. Dolce, Dialogo della pittura, 1960, S. 185.
475
hinaus eine so feingliedrig motivisch und plastisch detaillierte Landschaft wie die
Grabtragung, in der der Mittelgrund dicht hesetzt, die Bodentopographie im Idaren
Licht an jedem Punkt bestimmt und noch das Gebirge in der Ferne körperlich
durchgeformt ist. Die verbleibenden potentiellen Leerstellen am Boden hat Raphael
mit Pflanzen, die am Himmel mit körperlichen Cumuluswolken bedeckt. Selbst die
Dunkelöffnungen der Grabeshöhle und unterhalb von Maria sind fest plastisch
umgrenzt. Dieses Ideal der Vollkommenheit ohne Unbestimmtheit in der maleri-
schen Ausführung der Grabtragung Christi hat Raphael niemals vorher und auch
nicht in seiner Malerei der römischen Jahre mit ihrem vermehrten Helldunkel und
der zunehmenden malerischen Freizügigkeit der Ausführung gestaltet, und sicher-
lich war es gerade dies, was wie in keinem zweiten vorrömischen Werk Raphaels
eine antiakademisch orientierte Kritik provozierte" . Innerhalb der von Lodovico
Dolce markierten farbgestalterischen Extreme einer zu ausgeprägten weichen
Unbestimmtheit (vaghezza) und einer zu harten Glätte (politezza) tendiert die
Farbgestaltung der Grabtragung in für Raphael ungewöhnlicher Weise zur poli-
tezza hin2'4, vor der auch Dolce den Maler mit einem antiken Beispiel warnte:
»Risogna sopra tutto fuggire la troppa diligenza, che in tutte le cose nuoce. Onde
Apelle soleva dire che Protogene (se io non prende errore) in ciascuna parte del
dipingere gli era eguale e forse superiore; ma egli in una cosa il vinceva, e questa
era ch' ei non sapeva levar la mano dalla pittura.«
Gerade im Vergleich mit der hohen farbgestalterischen Ausführungsdichte der
Grabtragung wird man sich der wichtigen Funktion anschaulicher >Leerstellen< in
den übrigen Rildern Raphaels bewußt, der unbesetzten Bodenbereiche im Sposali-
zio, in der Pala Ansidei (Abb. 47) oder der Marienkrönung, der idealen Abstraktheit
der Ilimmelsflächen der Pala Colonna (Abb. 46), des Christus am Kreuz (Abb. 40)
213 Gerade auch mit Blick auf ihre Koloristik wurde die Grabtragung seit K. F. v. Rumohr
(Italienische Forschungen, Bd. III, 1827-31, S. 691.) u. a. von II. Wölfflin (Die Klassi-
sche Kunst, 1899, S. 85f.), 0. FiSCHEL (Raphael, 1962, S. 40I.) und in der jüngeren
Forschungz. B. von P. L. De Vecchi (Raffaello, 1981, S. 50), J. H. Beck (RalTael, 1981,
S. 92) oder von M. B. Hall (Color and meaning, 1992, S. 192) negativ beurteilt. Nicht
selten spiegeln sich freilich in diesen Wertungen inadäquate ästhetische PräsumptJo-
nen, die in Kapitel II wissenschaftsgeschichtlich eingeordnet werden (S. 1051'.). Als
vollendetes Meisterwerk wurde die Grabtragung unter klassizistischen Vorzeichen im
17. und 18. Jahrhundert geleiert (siehe eine Zusammenfassung der Urteile hei M. Eb-
hardt, Die Deutung der Werke Raffaels, 1972, S. 168-174), danach abwägend von
J. Burckhardt (Der Cicerone, 1986, S. 448), W. Kelber (Raphael von Urbino, 1979,
S. 111) und in der neueren Forschung u. a. von K. Oberhuber (Raffaello, 1982, S. 45f.)
gewürdigt.
214 L. Dolce, Dialogo della pittura, 1960, S. 185.
215 L. Dolce, Dialogo della pittura, 1960, S. 185.
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