SIEBENTER ABSCHNITT
Courbet und der Realismus
Im Jahre 1855 baute sich Gustave Courbet an der Avenue
Montaigne eine große Holzbaracke für 38 seiner Gemälde, die er aus
dem Salon, vor der Eröffnung, zurückgezogen hatte, weil nach seiner
Meinung die Hängekommission der Ausstellung ihnen zu schlechte
Plätze angewiesen hatte. An der Eingangswand dieser Scheune
brachte er in riesigen Lettern die Inschrift an: „Le Realisme.
G. Courbet“. Er glaubte, er hätte eine neue Richtung erfunden
und wäre ein Revolutionär in der Kunst.
Dieses Mißverständnis zog sich durch sein ganzes Leben hin und
verhinderte auch überseinenTod hinaus die gerechte Würdigungdieser
Kunst. Weil Courbet sich immer als Revolutionär und Umstürzler
gebärdete, weil er republikanische und sozialistische Propaganda
in Wort und Schrift trieb, weil er über seine Kunst Manifeste erließ,
die mit Kunst, auch mit seiner eigenen, nur lose Zusammenhänge
aufwiesen, weil er unter der Herrschaft der Commune (während der
er als Communard, wie auch der Dichter Verlaine, unersetzliche Kunst-
werke vor der Zerstörung rettete) sich in einem schwachen Moment
für die Zerstörung der Vendöme-Säule aussprach, dann, nach dem
Sieg der Gegenpartei, ins Gefängnis wanderte, zum Schadenersatz
verurteilt in die Schweiz flüchtete und dort im Groll starb —wegen all
dieser Dinge hielt man ihn, den Künstler, tatsächlich für etwas wie
einen Anarchisten der Kunst. Dies war, wie gesagt, eines der größten
Mißverständnisse, die der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts
passiert sind. * Denn der Mann, der verächtlich von „Monsieur
Rafael“ und von „ces messieurs des Louvre“ sprach, der die Tradi-
tion für eben solchen Humbug wie das Ideal und die Phantasie er-
klärte, war im Grunde der letzte alte Meister, den Frankreich besaß,
der letzte, der sich an der Tradition, eben am Louvre, ernährt hatte.
Es wird uns heute schwer, zu verstehen, was es mit seinem „Realis-
mus“ auf sich hatte. Nicht, was er selbst darunter verstand. Das
war einfach. Der Gegenstand, das Sujet. Die Tatsache, daß er das
Alltägliche malte und daß er es unvoreingenommen malte, einfach so,
wie es da war, ohne Idee, ohne Idealisieren, daß er zum Beispiel Leute
aus dem Volke malte, Arbeiter, und seine Genreszenen so behandelte,
4*
Courbet und der Realismus
Im Jahre 1855 baute sich Gustave Courbet an der Avenue
Montaigne eine große Holzbaracke für 38 seiner Gemälde, die er aus
dem Salon, vor der Eröffnung, zurückgezogen hatte, weil nach seiner
Meinung die Hängekommission der Ausstellung ihnen zu schlechte
Plätze angewiesen hatte. An der Eingangswand dieser Scheune
brachte er in riesigen Lettern die Inschrift an: „Le Realisme.
G. Courbet“. Er glaubte, er hätte eine neue Richtung erfunden
und wäre ein Revolutionär in der Kunst.
Dieses Mißverständnis zog sich durch sein ganzes Leben hin und
verhinderte auch überseinenTod hinaus die gerechte Würdigungdieser
Kunst. Weil Courbet sich immer als Revolutionär und Umstürzler
gebärdete, weil er republikanische und sozialistische Propaganda
in Wort und Schrift trieb, weil er über seine Kunst Manifeste erließ,
die mit Kunst, auch mit seiner eigenen, nur lose Zusammenhänge
aufwiesen, weil er unter der Herrschaft der Commune (während der
er als Communard, wie auch der Dichter Verlaine, unersetzliche Kunst-
werke vor der Zerstörung rettete) sich in einem schwachen Moment
für die Zerstörung der Vendöme-Säule aussprach, dann, nach dem
Sieg der Gegenpartei, ins Gefängnis wanderte, zum Schadenersatz
verurteilt in die Schweiz flüchtete und dort im Groll starb —wegen all
dieser Dinge hielt man ihn, den Künstler, tatsächlich für etwas wie
einen Anarchisten der Kunst. Dies war, wie gesagt, eines der größten
Mißverständnisse, die der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts
passiert sind. * Denn der Mann, der verächtlich von „Monsieur
Rafael“ und von „ces messieurs des Louvre“ sprach, der die Tradi-
tion für eben solchen Humbug wie das Ideal und die Phantasie er-
klärte, war im Grunde der letzte alte Meister, den Frankreich besaß,
der letzte, der sich an der Tradition, eben am Louvre, ernährt hatte.
Es wird uns heute schwer, zu verstehen, was es mit seinem „Realis-
mus“ auf sich hatte. Nicht, was er selbst darunter verstand. Das
war einfach. Der Gegenstand, das Sujet. Die Tatsache, daß er das
Alltägliche malte und daß er es unvoreingenommen malte, einfach so,
wie es da war, ohne Idee, ohne Idealisieren, daß er zum Beispiel Leute
aus dem Volke malte, Arbeiter, und seine Genreszenen so behandelte,
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