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ELFT ER ABSCHNITT

Die neue Linie: Degas, Forain,
Guys und Lautrec
Ingres hatte seinen Schülern gesagt: „Ich schreibe Euch Reichen-
schule' an mein Atelier und mache Euch zu Malern!“ In der
ersten Hälfte des Jahrhunderts ward um Zeichnung oder Malerei
gestritten. Seit Courbet, Manet und Renoir war dieser Kampf
gegenstandslos geworden, das eine war nicht mehr ohne das andere
möglich, war es innerlich nie gewesen. Die beiden Elemente waren
unlösbar miteinander verbunden. Renoirs Aktzeichnungen, graziös
wie die überraschenden Zeichnungen Millets, geben an Klassizität den
Ingresschen Bleistiftzeichnungen nichts nach. Nur lebt in den Ge-
mälden jetzt die Form unter und in der Malerei. Wenn auch die
Farbe, das Malerische, beiRenoirundManet immer dieFührunghatten,
die Sprache der Linie schwingt vernehmlich mit. Die Linie ist
die „probite de l’art“, das gute Gewissen der Malerei. Mochte
Edgar Degas, der, wie Manet, manchmal mit den Impressionisten
und manchmal im „Salon“ ausstellte, für sich die Bezeichnung eines
Impressionisten ebenso gereizt ablehnen wie Renoir, es verbindet
auch ihn vieles mit ihrer Kunst, so sehr er ihre Technik nur als Mittel
ansah und so sehr, in leidenschaftlicher Bewunderung der Ingres-
schen Welt, er die Linie immer energischer zum führenden Element
in seinen Schöpfungen machte.
Durch die Lehrzeit bei dem Flandrin-Schüler Lamothe ein Enkel-
schüler Ingres’ geworden, hing er der klassischen Linie und der
klassischen Komposition an. Aber er war von Anfang an der Natur
näher als die Akademiker. Eine römische Bettlerin, im Jahre 1857
in Rom entstanden, könnte in ihrem unerschrockenen Realismus von
Courbet sein, und in seinen Historienbildern, wie den „Jungen Spar-
tiaten“ und der nie ganz fertig gewordenen „Semiramis“, in der
„Tochter Jephtas“ und dem „Unglück der Stadt Orleans“, die ein
wenig an David, etwas mehr an Poussin und, in der Reinheit der
Linie, an Ingres gemahnen, gab er doch so viel unmittelbare Lebens-
nähe, daß man schon damals, 1860/61, fühlte, aus ihm werde
nie ein schulgerechter Klassizist. So untadelhaft er in seinen um
 
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