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Die neue Linie

die Mitte der sechziger Jahre entstandenen Bildnissen den Kontur
führte, die Art, die Formen im rieselnden Licht zu sehen und sie
in Atmosphäre einzutauchen, geht weit über die unbewegliche und
unnahbare Bestimmtheit des Klassizismus, auch der Ingresschen
Aktmalerei, hinaus.
Um die Mitte der 60er Jahre wandte er sich auch in seinen Stoffen
dem Leben der Gegenwart endgültig zu. Eine flüchtige Berührung
mit der Kunst Edouard Manets und seinem Sehen in Flächen wirkte
fast ein Jahrzehnt nach. In der „Equipage auf dem Rennplatz“ und
in der „Place Concorde“, Freilichtbildern, die auf ein sehr tonreiches,
leicht mit Graugelb und Grüngrau gehöhtes und mit tiefem Schwarz
an den entscheidenden Punkten des Flächenaufbaues gedunkeltes
Grau zurückgestimmt sind, erscheint seine Malerei wie die eines
Impressionisten. Auch ein japanisches Element wird spürbar, be-
sonders in der eigenwilligen Art, das Bild in den Rahmen zu rücken,
mit faszinierenden Überschneidungen im Vordergrund und frappan-
ten Durchschneidungen an den Rändern. Aber was er an den japa-
nischen Holzschnitten der Utamaro und Hokusai am meisten be-
wunderte, war wohl weniger die Dekoration als vielmehr die Bewegung
der Ausdruck des Momentanen, des blitzschnell wie im Fluge erhasch-
ten Beweglichen. Erst als er den Rennplatz, die Theater und die Bal-
letts besuchte, fand er das künstlerische Neuland, auf dem er sich
ansiedeln konnte. Natürliche Bewegung, in dieser Welt von Unnatur
und Überzüchtung, von Training und Drill, von Pose und Rampen-
licht, fand er sie. Sein erstes Rennbild datiert von 1866, das erste
Ballettbild von 1872. In dieser Epoche ward er der große, moderne
Meister. Was er von Linie und Fläche, von Licht und Beleuchtung,
von Farbe und Kolorit bisher von allen Seiten her gelernt hatte und
wußte, ward jetzt zur künstlerischen Einheit. Er hat einmal gesagt,
alle seine Bilder seien das Ergebnis von Nachdenken und Erfahrung,
und man hat daraufhin nicht verfehlt, seine Kunst kalt und artistisch
zu nennen. Wäre er nicht so schweigsam gewesen und hätte er sich
für Theorien überhaupt interessiert, so hätte er am Ende den Inhalt
seiner Bilder rückwärts aus lauter formalen Elementen erzählen
können, so wie der Dichter Edgar Allan Poe einmal sein großes
Gedicht „The Raven“ rückschreitend genau analysierte, aus Reim
und Klang, Strophenproportion und Stabreimökonomie, und dabei
nur vergaß, die Inspiration zu analysieren. Degas Bilder, in Fläche
und Masse so bis in die zartesten Schwingungen hinein ausgewogen,
so unnachahmlich sicher, nicht im Raum sondern mit dem Raum
 
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