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ZWEITER ABSCHNITT

Der Klassizismus: David, Ingres
und Chasseriau
Man pflegt heute Ingres als das Haupt des französischen Klassi-
zismus anzusehen, den größten Gegner der Romantiker, und in
der Tat brachte er ja kunstpolitisch seine Tage damit hin, Delacroix
zu bekämpfen; wenn dessen Name genannt wurde, bekam er buchstäb-
lich konvulsivische Anfälle. Aber man erschöpft das Problem nicht,
wenn man diesen großen Künstler nur unter dem Gesichtswinkel
dieser historischen Richtung sieht und etwa in eine Linie mit den
deutschen Trägern des Klassizismus stellt. Mit Altertumswissen-
schaft und Winkelmann verbindet seine Kunst nicht allzuviel. Son-
dern bei diesem einstmals sehr brennend gewesenen Gegensatz zwi-
schen Klassischem und Romantischem handelt es sich hier in Frank-
reich um Gegensätze, die viel tiefer liegen als der Streit der histo-
rischen Richtungen. Klassizismus ist in Frankreich beinahe auch
eine Form, wenn auch eine besondere Form, von Romantik. Es
handelt sich vielmehr um einen Gegensatz, um eine Polarität, die
alles künstlerische Schaffen durch das ganze Reich der Kunst-
geschichte beherrscht, den Gegensatz, den man mit allen möglichen
Namen benennen kann, mit „naiv“ und „sentimentalisch“, mit
„Vorstellungskunst“ und „Wahrnehmungskunst“, mit „Objektivis-
mus“ und „Subjektivismus“ oder wie immer; einen Gegensatz, der
das eigentliche Verhältnis des Künstlers zur Natur betrifft.
Ingres hat niemals eine Landschaft gemalt.
Diese Tatsache, auf den ersten Blick vielleicht nicht mehr als eine
Äußerlichkeit, bedeutet dennoch etwas Besonderes: Das 19. Jahr-
hundert, dessen Kunst Ingres für Frankreich einleitet, konnte ja
später kaum noch anders als sich bei dem Worte „Bild“ ein Land-
schaftsgemälde vorzustellen; und die Franzosen haben, so sonderbar
es klingt, diesen Künstler noch zu seinen Lebzeiten als den Vater des
Naturalismus gefeiert, nachdem der jahrzehntelang währende Kampf
zwischen Klassizismus und Romantik endlich zurRuhe gekommen war.
Die Natur war um die Mitte des 19. Jahrhunderts offenbar etwas
anderes geworden, als sie um die Jahrhundertwende noch gewesen war.
 
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