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Courbet und der Realismus

Spiegels, wie ihn Leonardo forderte, zerstört werde, dies war sein
bewegendes Problem. Mit dieser Absicht ging er malend der Natur
zu Leibe, und da er vor den alten Meistern seinen Sinn dafür ent-
wickelt hatte, was sinnlich schöne Malerei und veredelte Materie,
geschliffene Ölfarbe bedeuten, machte er seine Gestalten zu sinnlich-
schönen Kostbarkeiten. Nach dem Formenleben organisiert er Licht-
führung und Farbe, aus Dunkel baut er langsam in lückenloser Ton-
folge die Helligkeiten auf, unfehlbar in den Intervallen, weil ihm,
wenn er eine Figur, einen Akt, ein Gesicht malt, als höchste Licht-
stufe immer der Grad von Helligkeit vorschwebt, den das Gesicht,
der Akt, bei dieser Stärke der Form noch tragen kann, ohne die Fläche
zu durchbrechen. Nach dem gleichen, inneren Rhythmus bringt er
auch die Farben zum Schwingen und gibt den Flächen so viel Be-
wegung, daß sie auch an nebensächlichen Stellen verhältnismäßig
ebensoviel Reichtum, Formenfülle und Lichtbewegung haben, wie
ihnen zum Unterschied von der Hauptform zukommen. Sie selber,
diese Stellen, sollen da sein, aber nur so weit, als sie die Hauptform
tragen und die in der Wirklichkeit vorhandenen Löcher zudecken.
Wenn Courbet dieses Problem bis in die letzten Folgerungen hinein
durchgearbeitet hat, ist für ihn alles getan; dann ist sein Wahrheits-
drang gestillt. Was die „Seele“ anlangt, deren Fehlen man ihm vor-
warf, so konnte er mit Leibi sagen: „Wenn ich nur die Dinge so male,
wie sie sind, ist die Seele ohnehin dabei.“ Er sah die ganze Natur,
ihr Ganzes und ihr Einzelnes, wie ein Stilleben an.
Courbets künstlerische Entwicklung festzustellen ist fast unmög-
lich. Er war mit der Meisterschaft sozusagen geboren. Im schwär-
merischen Gefühlsausdruck einiger Werke des Fünfundzwanzig-
jährigen, etwa im L’homme blesse“ und in den „Amants dans la
Campagne“, spürt man Romantisches. Dann wird er immer sach-
licher und huldigt jener Genialität des Sachlichen, die man im „Be-
gräbnis zu Omans“ mit solch aufgeregter Ergriffenheit bewundert.
Ein Stil des Sachlichen, wie ihn in der Literatur gleichzeitig Gustave
Flaubert in der Madame Bovary zur Meisterschaft führte, nachdem
auch er seine Romantik, iq der ersten Fassung der Education senti-
mentale noch so deutlich, überwunden hatte. Wohl wechselt er
manchmal den Stil. Nachdem er im „Begräbnis“ das höchste Maß
von Plastik verwirklicht hatte, das seiner Anschauung erlaubt schien,
läßt er sich in dem zweiten großen Hauptwerk, dem „Atelier“
(1848—1855), von dem Ideal einer weichen Tonfülle führen, die an
Velasquez gemahnt, und berauscht sich dann, zwei Jahre später,
 
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