Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Wemhoff, Matthias <Prof. Dr.>
Das Damenstift Herford: die archäologischen Ergebnisse zur Geschichte der Profan- und Sakralbauten seit dem späten 8. Jahrhundert (Band 1): Text — Bonn, 1993

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.29808#0197
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
V. Grundlinien der Stiftsentwicklung - Eine Zusammenfassung

Bereits während der Ausgrabungen im Bereich des
ehemaligen Damenstiftes in Herford und ihrer nun vor-
liegenden Auswertung erwiesen sich die zahlreichen
Brandzerstörungen als massive Einschnitte innerhalb
der Baugeschichte des Stiftes. Sie konnten und können
als Endpunkte von Entwicklungen einerseits und als
Chance für Neuanfange andererseits gesehen werden.

Dies gilt zunächst für den Brand nach dem Ungamüber-
fall 926. Eine mächtige Brandschicht überzog die Reste
der ältesten Gebäude. Selbst der Sand unter den Fußbö-
den wurde bei dem Brand durch die große Hitze der
herabstürzenden Deckenbalken und des schwelenden
Feuers in leuchtendem Rot verziegelt (Taf. 95.52).
Diese Zerstömng ist durch eine neu entdeckte, zeitge-
nössische, erzählende Quelle gut belegt. Gerade der
Wiederaufbau wird in ihr sehr anschaulich geschildert.
Dort heißt es, daß die Äbtissin Ymma begann, die Kir-
chengebäude wieder aufzurichten, wobei sie die Fun-
damente fast neu legen mußte, immer noch recht er-
schreckt durch die Zerstörung, die sie kurz zuvor betrof-
fen hatte. Beides, die Neuanlage der Stiftsgebäude und
der Kirche sowie die Behutsamkeit der Ausführung,
konnte durch die Grabung bestätigt werden. Mit Aus-
nahme des Westflügels und Teilen der Kirche wurden
alle Gebäude völlig neu errichtet, die sich aber an der
Lage der älteren Bauten orientierten. Auch die Kirche
baute Ymma unter Beibehaltung der alten Raumfolge
(Westteil, Querhaus, Mittelschiff, Querhaus, Ostteil)
wieder auf, nur das Mittelschiff wurde verbreitert und
der Westbau in der damals zukunftsweisenden Form des
ottonischen Westwerks neu errichtet (Beil. 9, Periode
TVa).

Behielt Äbtissin Ymma somit noch das der ursprüngli-
chen Anlage zugrundeliegende Konzept bei, so wurde
der zweite verheerende Brand, der historisch nicht
überliefert ist, zu einer Neukonzeption genutzt. In der
ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurden der Nord-
und Osttrakt sowie vermutlich auch ein großer Teil der
Kirche ein Opfer der Flammen (Taf. 107.74). Die Zer-
störung war so vollständig, daß es sich nicht lohnte, die
mit Brandschutt verfüllten Keller freizuräumen. Der
Ost- und Nordtrakt entstanden nie wieder in der alten
Form. Vielmehr begann man zunächst mit dem Bau der
heute noch stehenden Kirche, an die dann, in etwas an-
derer Flucht als der ältere Osttrakt, das neue Schlafhaus
angefügt wurde (Beil. 11, Periode Va). Es nahm zu die-
sem Zeitpunkt alle noch von der Stiftsgemeinde benö-
tigten Räume auf. Der Brand und der anschließende
Neubau wurden somit genutzt, um die gesamte Anlage
den geänderten Bedürfnissen anzupassen.

Gleiches gilt für den letzten, auch historisch gut beleg-
baren großen Brand, den Stadtbrand von 1638. Die da-
mals zerstörten Häuser, wie das Schlafhaus und die ein-
zelne Kurie im Norden, wurden nicht mehr aufgebaut;
es bestand demnach kein Bedarf mehr für diese Ge-

bäude (Beil. 13, Periode VI).

Der Nachweis der drei Brände und die damit einherge-
henden Neubauten führen zu einer zentralen Frage bei
der Auswertung der archäologischen Quellen: Welche
historischen Abläufe, welche Entwicklungen innerhalb
der Stiftsgemeinschaft finden ihren Niederschlag in der
baulichen Gestalt des Stiftes? Zwei Aspekte erscheinen
mir nach der Auswertung der Herforder Befunde dabei
wesentlich. Zum einen ist dies die kontinuierliche Wei-
terentwicklung des ursprünglichen Konzeptes, und zum
zweiten die zeitverzögerte Umsetzung von Veränderun-
gen der inneren Struktur und Verfassung der Einrich-
tung in die baulichen Gegebenheiten.

Das nach der Findung der endgültigen Form der Stif-
tung entwickelte Baukonzept der ersten Hälfte des 9.
Jahrhunderts ist über vier Jahrhunderte beibehalten
worden (Beil. 8, Periode Illb). Die Neubauten der Kir-
chen, aber auch der Profangebäude halten sich nahezu
pedantisch an die alten Baufluchten. Die Behutsamkeit
im Umgang mit der Tradition ist spürbar, vielleicht
sollte man es besser Beharrlichkeit nennen. Tradition ist
sinnstiftendes Element dieser geistlichen Einrichtung.
Rückbesinnung auf den Stifter ist die Legitimation. So
wie die Urkunden mit den Schenkungen und den
Rechtstiteln immer wieder, insbesondere nach dem exi-
stenzgefährdenden Ungarnüberfall, erneuert und bestä-
tigt werden, so ist der Neuaufbau an alter Stelle Zeichen
der Kontinuität und bewußte Ankntipfung an die Tradi-
tion. Das spricht nicht gegen Änderungen, etwa in der
Nutzung einzelner Räume. Da uns aber häufig die Nut-
zungshorizonte fehlten, konnte über diese Details nur
wenig herausgefunden werden.

Das große Herforder Klausurgeviert spiegelte somit
noch im 13. Jahrhundert die Konzeption des 9. Jahrhun-
derts wider. Daher ist auch über diese Zeit archäolo-
gisch die weitestgehende Aussage möglich. Damals
konnte die Konzeption Ludwigs des Frommen vermut-
lich mit Ausnahme einiger Rücksichtnahmen auf Walt-
gers Planungen so ausgeführt werden, wie es für die
Funktionsfähigkeit des Konvents am besten gewesen ist.
Daher läßt sich aus der Gründungsanlage auch der Hin-
weis auf ein für eine große Personenzahl gebautes Stift
entnehmen, das sich in seiner baulichen Gestalt des er-
grabenen, inneren Klausurbereichs nicht von der Anlage
damaliger Benediktinerklöster unterschieden hat.

Im 10. Jahrhundert wird diese Konzeption beibehalten,
was bedeutet, daß sich der Bedarf der Stiftsgemein-
schaft noch nicht so weit von der ursprünglichen Kon-
zeption entfemt hatte, daß in die Tradition eingegriffen
werden mußte. Dabei hat es, wie der Quelle über die
Marienvision des 10. Jahrhunderts zu entnehmen ist,
sehr wohl Streit und Spannung über die innere Verfas-
sung des Stiftes gegeben. Diese schlagen sich im bauli-
chen Befund jedoch nur in Details, z.B. der Vernachläs-
 
Annotationen