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JULIE GY.-WILDE
Befragt man die von Constantinus Tischendorf veröffentlichten Quellen, so zeigt sich, daß zwei
Versionen des „Transitus Mariae“ zu unterscheiden sind3). Zwei lateinische Texte (Tischendorf A und B)
gehen, wie alle fremdsprachigen Versionen, auf das sog. Buch Johannis über den Tod Mariä in griechi-
scher Sprache (Tischendorf, S. 95—112) zurück. Der Text B: ,,Transitus Beatae Mariae“ ist in einigen
Handschriften mit einer Vorrede versehen, die dem Bischof von Sardes, Melito, in den Mund gelegt wird
und die sich auf den Bericht des Evangelisten Johannes beruft (Tischendorf, S. 124—136). Diese Version
hat Gregor von Tours verwertet, sie ist für die bildliche Gestaltung in der nordischen Kunst bestimmend
geworden. Nach der Szene der „Dormitio“ — Maria stirbt im Kreise der Apostel, Christus nimmt ihre
Seele entgegen und fährt mit ihr in Engelbegleitung zum Himmel empor — folgt der Bericht der „Assump-
tio“: die Apostel haben Maria begraben und harren im Tale Josaphat drei Tage am Grabe auf die ver-
sprochene Wiederkunft Christi; der Herr erscheint, erweckt den unbefleckten Leib, den keine Verwesung
vernichten soll, nachdem Engel die Seele wieder herabgebracht haben; der wiederbeseelte Körper wird
freudevoll von Engeln in den Himmel getragen.
Im Text A: ,,De Transitu beatae Mariae Virginis“ (Tischendorf, S. 113—123, der sog. Josephtext)
fehlt Thomas bei den Ereignissen des Todes und Begräbnisses. Kaum hatten die Apostel den Körper
beigesetzt, als sie von einem starken Licht geblendet wurden. Thomas, der in diesem Augenblick in
Indien die Messe liest, wird durch ein Wunder auf den Ölberg versetzt und sieht von da, wie Maria
von Engeln in den Himmel getragen wird. Er fällt auf die Knie, bittet um ihren Segen, worauf ihm der’
Gürtel Marias vom Himmel zugeworfen wird. Die Apostel haben nichts gesehen, auch die Tatsache der
Himmelfahrt erfahren sie erst von Thomas. — Diese Version ist am frühesten und auch am häufigsten
in der italienischen Kunst verwertet worden: Thomas allein ist unter der Mandorla dargestellt, wie z. B.
auf dem Himmelfahrtsbild des Altares von Gregorio und Donato d’Arezzo, ehedem in der Kathedrale
von Bracciano4), oder es wird die Reihe der gleichzeitigen Ereignisse ausführlich erzählt, wie auf dem
Fresko im Chore der Arenakapelle in Padua.
Die byzantinische Kunst kennt nur die Darstellung der „Dormitio“, und auch in Italien war bis
zum späten Ducento anscheinend nur diese verbreitet; Rohault de Fleury hat am ausführlichsten die ver-
schiedenen Kompositionstypen derselben zusammengestellt5). In Frankreich dagegen ist die Auferweckung
des Körpers und die Himmelfahrt des wiederbeseelten Körpers in hochromanischer Zeit ein beliebtes Thema6).
Das spätromanische Tympanonrelief von S. Pierre-le-Puellier, heute im Museum von Bourges, stellt
in fünf Bildern die Todeslegende dar7). Das letzte Bild oben rechts zeigt die Assumptio, Maria in der
Mandorla stehend, von zwei Engeln emporgetragen. Die Herkunft dieser Komposition ist im „orien-
talischen Typus“ der Himmelfahrt Christi8), der in Italien sehr früh (z. B. in S. Clemente), im Norden
seit dem Anfang des XII. Jahrhunderts, und zwar in der romanischen Plastik Frankreichs nachweisbar
ist. Im Relief von Bourges ist diese Filiation noch sehr deutlich zu erkennen, weil die beiden Mandorla-
träger den Oberkörper zurückbiegen, um herabzublicken; dies ist die typische Gebärde jener zwei Engel
der Himmelfahrt Christi, die den unten stehenden Aposteln die Wiederkunft des Herrn verkünden
(Apostelgeschichte 1, 11). — In der weiteren Entwicklung der nordischen Plastik ist diese Szene häufig,
Maria wird meistens stehend dargestellt, die Zahl der fliegenden Engel an der Mandorla vermehrt sich.
Vom Norden muß also die Komposition mit den französisch-gotischen Einflüssen nach Italien, zunächst
wohl nach Siena, gekommen sein.
3) Apokalypses apokryphae . . . item Mariae Dormitio. Lipsiae 1866, S. XXXIV—XLVI und S. 95—136.
4) Abb. bei R. v. Marie, Italien schools of painting V. Fig. 189 Die Signatur und die Jahreszahl, die bisher fälschlich
1315 gelesen wurde, stehen auf der Fußleiste des Thrones Christi. Der ganze Altar wurde 1922 gestohlen, doch ist auf
der Photographie des Min. d. P. I. die Inschrift gut zu sehen. Von der Jahreszahl sind nur mehr die Ziffern MGCG deut-
lich zu erkennen, alles übrige durch den Holzwurm so verdorben, daß eine verläßliche Lesung unmöglich erscheint. Der
Stil aller Tafeln spricht unseres Erachtens deutlich für die Dreißigerjahre des Jahrhunderts.
5) La Sainte Vierge, Paris 1878, XL Kapitel.
6) Emile Male, L’art religieux du XIIe siecle en France, Paris 1922, p. 435 ff.
7) Male, a. a. O. Fig. 261; veröffentlicht von M. Deshoulieres im XXXVIII. Band der «Mömoires de la societe des anti-
quaires du Centre.»
8) Vgl. Ernest T. Dewald, The iconography of the ascension, in: American Journal of Archeology, second series, vol. XIX,
1915, S. 277 ff.
JULIE GY.-WILDE
Befragt man die von Constantinus Tischendorf veröffentlichten Quellen, so zeigt sich, daß zwei
Versionen des „Transitus Mariae“ zu unterscheiden sind3). Zwei lateinische Texte (Tischendorf A und B)
gehen, wie alle fremdsprachigen Versionen, auf das sog. Buch Johannis über den Tod Mariä in griechi-
scher Sprache (Tischendorf, S. 95—112) zurück. Der Text B: ,,Transitus Beatae Mariae“ ist in einigen
Handschriften mit einer Vorrede versehen, die dem Bischof von Sardes, Melito, in den Mund gelegt wird
und die sich auf den Bericht des Evangelisten Johannes beruft (Tischendorf, S. 124—136). Diese Version
hat Gregor von Tours verwertet, sie ist für die bildliche Gestaltung in der nordischen Kunst bestimmend
geworden. Nach der Szene der „Dormitio“ — Maria stirbt im Kreise der Apostel, Christus nimmt ihre
Seele entgegen und fährt mit ihr in Engelbegleitung zum Himmel empor — folgt der Bericht der „Assump-
tio“: die Apostel haben Maria begraben und harren im Tale Josaphat drei Tage am Grabe auf die ver-
sprochene Wiederkunft Christi; der Herr erscheint, erweckt den unbefleckten Leib, den keine Verwesung
vernichten soll, nachdem Engel die Seele wieder herabgebracht haben; der wiederbeseelte Körper wird
freudevoll von Engeln in den Himmel getragen.
Im Text A: ,,De Transitu beatae Mariae Virginis“ (Tischendorf, S. 113—123, der sog. Josephtext)
fehlt Thomas bei den Ereignissen des Todes und Begräbnisses. Kaum hatten die Apostel den Körper
beigesetzt, als sie von einem starken Licht geblendet wurden. Thomas, der in diesem Augenblick in
Indien die Messe liest, wird durch ein Wunder auf den Ölberg versetzt und sieht von da, wie Maria
von Engeln in den Himmel getragen wird. Er fällt auf die Knie, bittet um ihren Segen, worauf ihm der’
Gürtel Marias vom Himmel zugeworfen wird. Die Apostel haben nichts gesehen, auch die Tatsache der
Himmelfahrt erfahren sie erst von Thomas. — Diese Version ist am frühesten und auch am häufigsten
in der italienischen Kunst verwertet worden: Thomas allein ist unter der Mandorla dargestellt, wie z. B.
auf dem Himmelfahrtsbild des Altares von Gregorio und Donato d’Arezzo, ehedem in der Kathedrale
von Bracciano4), oder es wird die Reihe der gleichzeitigen Ereignisse ausführlich erzählt, wie auf dem
Fresko im Chore der Arenakapelle in Padua.
Die byzantinische Kunst kennt nur die Darstellung der „Dormitio“, und auch in Italien war bis
zum späten Ducento anscheinend nur diese verbreitet; Rohault de Fleury hat am ausführlichsten die ver-
schiedenen Kompositionstypen derselben zusammengestellt5). In Frankreich dagegen ist die Auferweckung
des Körpers und die Himmelfahrt des wiederbeseelten Körpers in hochromanischer Zeit ein beliebtes Thema6).
Das spätromanische Tympanonrelief von S. Pierre-le-Puellier, heute im Museum von Bourges, stellt
in fünf Bildern die Todeslegende dar7). Das letzte Bild oben rechts zeigt die Assumptio, Maria in der
Mandorla stehend, von zwei Engeln emporgetragen. Die Herkunft dieser Komposition ist im „orien-
talischen Typus“ der Himmelfahrt Christi8), der in Italien sehr früh (z. B. in S. Clemente), im Norden
seit dem Anfang des XII. Jahrhunderts, und zwar in der romanischen Plastik Frankreichs nachweisbar
ist. Im Relief von Bourges ist diese Filiation noch sehr deutlich zu erkennen, weil die beiden Mandorla-
träger den Oberkörper zurückbiegen, um herabzublicken; dies ist die typische Gebärde jener zwei Engel
der Himmelfahrt Christi, die den unten stehenden Aposteln die Wiederkunft des Herrn verkünden
(Apostelgeschichte 1, 11). — In der weiteren Entwicklung der nordischen Plastik ist diese Szene häufig,
Maria wird meistens stehend dargestellt, die Zahl der fliegenden Engel an der Mandorla vermehrt sich.
Vom Norden muß also die Komposition mit den französisch-gotischen Einflüssen nach Italien, zunächst
wohl nach Siena, gekommen sein.
3) Apokalypses apokryphae . . . item Mariae Dormitio. Lipsiae 1866, S. XXXIV—XLVI und S. 95—136.
4) Abb. bei R. v. Marie, Italien schools of painting V. Fig. 189 Die Signatur und die Jahreszahl, die bisher fälschlich
1315 gelesen wurde, stehen auf der Fußleiste des Thrones Christi. Der ganze Altar wurde 1922 gestohlen, doch ist auf
der Photographie des Min. d. P. I. die Inschrift gut zu sehen. Von der Jahreszahl sind nur mehr die Ziffern MGCG deut-
lich zu erkennen, alles übrige durch den Holzwurm so verdorben, daß eine verläßliche Lesung unmöglich erscheint. Der
Stil aller Tafeln spricht unseres Erachtens deutlich für die Dreißigerjahre des Jahrhunderts.
5) La Sainte Vierge, Paris 1878, XL Kapitel.
6) Emile Male, L’art religieux du XIIe siecle en France, Paris 1922, p. 435 ff.
7) Male, a. a. O. Fig. 261; veröffentlicht von M. Deshoulieres im XXXVIII. Band der «Mömoires de la societe des anti-
quaires du Centre.»
8) Vgl. Ernest T. Dewald, The iconography of the ascension, in: American Journal of Archeology, second series, vol. XIX,
1915, S. 277 ff.