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Institut für Österreichische Kunstforschung [Mitarb.]
Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte — 7.1930

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Gy.-Wilde, Julie: Giotto - Studien
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Exkurs I (zu S. 52): Zur Ikonographie der Himmelfahrt Mariä
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Exkurs II (zu S. 55): Zur Deutung von Giottos Stigmatisation des Heiligen Franziskus
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https://doi.org/10.11588/diglit.56539#0097
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GIOTTO-STUDIEN

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In Italien ist die Himmelfahrt des Körpers, soviel ich sehe, am frühesten in Cimabues wunder-
barem Fresko im Chor der Oberkirche von Assisi dargestellt9). Cimabue zeigt auch hier, wie in der Neu-
formung des Marienbildes in der Tafel aus S. Trinitä, seine freie Gestaltungskraft: Maria und Christus
sitzen nebeneinander in der Mandorla auf Regenbogen; Maria legt ihr Haupt auf die Schulter des Herrn,
vier fliegende Engel tragen die Gloriole empor. Die feierliche Begleitung der Ältesten, Propheten und
Ff eiligen ist unter der Mandorla aufgereiht, die Apostel ganz unten umgeben das Grab. Diese reiche Er-
zählung dürfte vom Texte der „Legenda Aurea“ (zum 15. August) inspiriert sein10), und da auch andere
Bilder der Folge diesen Einfluß verraten, kann die Entstehungszeit der „Legenda Aurea“ (zirka 1263
bis 1288) als sicherer terminus post quem bei der Datierung verwertet werden. Hier also, in der Dar-
stellung der „Himmelfahrt Christi“, in der französischen Skulptur des hohen Mittelalters, vielleicht auch
in der Komposition Cimabues und in der Wirkung der „Legenda Aurea“, in der eine Reihe von visio-
nären Berichten des himmlischen Empfanges Mariä zusammengetragen wird, sind die Wurzeln der
„sienesischen Assumptio“ zu suchen.
Giotto hat sich diesem neuen Darstellungstypus nicht angeschlossen: er hat vereinfacht, monumen-
talisiert. Seine Engel schweben und flattern nicht, sie schreiten in freier, ruhiger Bewegung weit aus,
wie die Engel Cavallinis. Das neubelebte spätantike Rom hat auch bei dieser Umformung mitgesprochen.
EXKURS II (zu S. 55)
ZUR DEUTUNG VON GIOTTOS STIGMATISATION DES HEILIGEN FRANZISKUS
Im Zusammenhang mit der ikonographischen Deutung der Stigmatisation drängen sich zwei Fragen
auf: 1. Ist die bildliche Gestaltung literarischer Schöpfungen auch sonst in Giottos Werk erkennbar?
2. Ist es chronologisch möglich, daß Giotto die „Considerazioni“ gekannt hat?
1. In den wenigen erhaltenen Werken gibt sich, wie schon vielfach betont worden ist, Giottos Per-
sönlichkeit als die eines tiefsinnigen Denkers, eines selbständig schaffenden Poeten und gebildeten Mannes
zu erkennen. Auch in Darstellungen, in denen er sich an die traditionelle Ikonographie hält, ist der Inhalt
neu gestaltet. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß dieser Geist in der Literatur nach Bereicherung gesucht
hat. Humanisten und Geistliche dürften ihn dabei unterstützt haben. In der Liste seiner verschollenen
Werke kommen bekanntlich die mannigfaltigsten Stoffe vor, weltliche Allegorie, theologisches Symbol,
historische und politische Themen. Das wichtigste in unserem Zusammenhang ist aber, daß er aller
Wahrscheinlichkeit nach schon bei der Bemalung des Triumphbogens der Arenakapelle den poetischen
Bildern einer franziskanischen Schrift, den wohlbekannten „Meditationes vitae Christi“, gefolgt war.
P. Livario Öliger hat vor kurzem nachgewiesen, daß die „Meditationes“ in Toskana, wahrschein-
lich in San Gimignano, von einem Franziskaner: Giovanni de Caulibus, in den letzten Jahren des
XIII. Jahrhunderts oder kurz nach 1300 verfaßt worden sind1). Giotto, der in Padua mit den Fran-
ziskanern in Verbindung stand, kann sie also 1303—1306 wohl gekannt haben.
Das zweite Kapitel der „Meditationes“ beschreibt die später so berühmt gewordene Vorgeschichte
der Verkündigung Mariä, die Fürbitte der Engel für das unter der Last der Erbsünde schmachtende
Menschengeschlecht und den Wettstreit der vier Tugenden (eigentlich der Eigenschaften der göttlichen
Allmacht) vor dem Throne Gottes2). Diese Szene hat Giotto am oberen Teil des Triumphbogens der

9) Vgl. Beda Kleinschmidt, a. a. O. Bd. II, Abb. 14.
10) Vgl. Legenda Aurea, ed. Graesse2, S. 504 ff.
x) P. Livario Öliger, Le meditationes vitae Christi del Pseudo Bonaventura. Studi Francescani, Anno VII/4 u. VIII/1.
Arezzo 1922. Als letzter terminus post quem wird die Entstehungszeit der in den „Meditationes“ zweimal zitierten
„Legenda Aurea“: 1263—1288 angegeben. Die von Öliger festgestellten Termini ante ques ermöglichen keinen sicheren
Schluß für die zeitliche Abgrenzung nach oben. So ist denn die Stellungnahme in der jüngeren Literatur über die Ikono-
graphie Giottos, in der die Wirkung der „Meditationes“ auf die Arenafresken aus chronologischen Gründen ausgeschlossen
wird, nicht berechtigt. Vgl. R. v. Marie, Recherches sur l’iconographie de Giotto et de Duccio. Straßburg 1920; Erwin
Rosenthal, Giotto in der mittelalterlichen Geistesentwicklung. Augsburg 1924, S. 193; Helene Bryda, Die Meditationes
vitae Christi und ihr Verhältnis zur bildenden Kunst. Wiener Dissertation (Lehrkanzel Schlosser), 1926.
2) Über die Quellen dieses Kapitels vgl. P. L. Öliger, a. a. O. S. 26.

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