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JULIE GY.-WILDE
Arenakapelle dargestellt. Die Komposition ist eine Neuschöpfung Giottos3). Um den hohen Stufenthron
Gottes ist der blaue Grund in ziemlich breiter Fläche leer geblieben. Vier große Engel stehen ohne
jede Fußstütze in diesem leeren Raum; sie bilden mit Gott-Vater den zentralen Teil der Komposition,
während die übrigen Engel in dicht gedrängten, nahezu symmetrischen Gruppen, musizierend und singend,
im Zwiegespräch oder ihr Staunen ausdrückend, auf beiden Seiten schweben. Weiße Wölkchen
sind unter den Füßen der „Schwebenden“ sichtbar, ihre Gewänder sind aus dünnerem, flatterndem
Stoffe. Die zwei „Stehenden“ vorne tragen Szepter; sie wenden den „Schwebenden“ den Rücken zu,
und um die Trennung noch klarer zu machen, ist jeweils der erste schwebende Engel hinter ihnen bild-
einwärts sprechend dargestellt. Mit dieser von der Mitte weg strebenden Bewegung zur Tiefe beginnt
der geschlossene rhythmische Reigen der „Schwebenden“; je zwölf Figuren sind auf beiden Seiten halb-
kreisförmig in Gruppen zu sechs und in doppelten Reihen angeordnet. In den Zwickeln immer zwei Engel-
kinder als Tubenbläser. — Der Engel zur Rechten Gottes schreitet mit zurückgeworfenem Kopfe, mit
gefühlvoller Gebärde vor; der zu seiner Linken steht gerade und kreuzt die Arme, sein Gesichtsausdruck
ist streng und unerbittlich. Es ist wahrscheinlich, daß in diesen beiden Gestalten die flehende „Barm-
herzigkeit“ und die auf ihr Recht bestehende „Wahrheit“ sich gegenüberstehen. Dann wären in den
vorderen Szepterträgern der Friede und die Gerechtigkeit zu erkennen. H. Bryda4) spricht, wie Rin-
telen und andere, nur von zwei Figuren neben dem Throne Gottes. Sie glaubt in ihnen zwei Erzengel
zu erkennen und deutet das Bild als „Aussendung des Erzengels Gabriel“. Die Aussendung ist in den
Meditationes der Abschluß der himmlischen Szene. Wären hier „vier“ Erzengel dargestellt, dann wäre
das ganze Bild eine freie Erfindung Giottos, ein einzigartiger Fall, der der unpersönlichen Gestaltungs-
weise der mittelalterlichen Kunst und auch der des Trecento durchaus widerspricht. Alle kompositio-
nellen Neuschöpfungen des Trecento, also alle jene Bilder, für die keine ikonographische Tradition nach-
weisbar ist, sind Illustrationen bestimmter Texte oder allegorischer Gedankengänge. Dvorak hat die
Werke dieser Kunstrichtung als „gemalte Literatur“ bezeichnet5). Im Laufe der Entwicklung gewinnen
in solchen Werken die erklärenden Attribute immer an Bedeutung. Giotto hat diese äußerliche Fest-
legung nicht oder doch nur nebenbei verwendet, der Sinn des Geschehens oder der verkörperten Idee
ist bei ihm im Ausdruck des Gesichtes, der Gebärde verborgen; eine richtige Deutung ist nur aus ihr
und aus der Gesamtgestalt des Bildes zu gewinnen. Wenn man nun den individuell bezeichneten Aus-
druck der zwei oberen Gestalten und den Ernst der zwei unteren mit den liebevollen, lächelnden oder
staunenden Blicken der im Reigen schwebenden Engel vergleicht, kann über den wahren Sinn der Szene
im Himmel kein Zweifel bestehen: die Erzählung der „Meditationes“ hat Giotto zu dieser wunderbaren
Komposition inspiriert.
2. Die Beantwortung der zweiten Frage, ob die „Considerazioni“ Giotto schon bekannt sein konnten,
begegnet der doppelten Schwierigkeit, daß weder die Entstehungszeit der „Fioretti“ noch die der Bardi-
kapelle genau festgestellt werden kann. Erst in jüngster Zeit haben die Forschungen Paul Sabatiers und
P. Benvenuto Bughettis einige Klarheit über das Herkunftsproblem der „Fioretti“ gebracht. Sabatier
und A. G. Little haben die lateinische Quelle, aus der die Fioretti im engeren Sinne, d. h. die ersten
53 Kapitel der italienischen Fassung zusammengestellt sind, die „Actus beati Francisci et sociorum eins“
erkannt und veröffentlicht6). Sämtliche Kapitel der „Fioretti“ sind in den reichhaltigeren „Actus“
enthalten, doch in anderer Reihenfolge und verstreut unter Erzählungen, die in den „Fioretti“ nicht
verwendet sind. Während man früher einen verlorenen lateinischen Text zwischen „Fioretti“ und „Actus“
3) Rintelen, a. a. O. S. 84—85 meint, daß Giotto von der Ducentokunst Anregungen zu dieser Komposition empfangen
habe und weist auf das Apsismosaik von S. Maria Maggiore in Rom hin. Dieser Zusammenhang ist sehr allgemeiner
Natur. Meines Wissens ist eine himmlische Szene dieser Art niemals in Verbindung mit der Verkündigung dargestellt
worden.
4) a. a. O.
5) Geschichte der italienischen Kunst, I. Bd. (München 1927), S. 50.
6) Actus beati Francisci et sociorum eins“ ed. Paul Sabatier, in: Collection d’etudes et de documents sur l’histoire
religieuse du moyen äge, t. IV; u. ders.: „Floretum S. Francisci Assisiensis“, Paris 1902; A. G. Little, Un nouveau
manuscrit franciscain, ancien Philippe 12290 . . . in: „Opuscules de critique historique“, t. III, fase. 1, Paris 1914—1919;
P. Benvenuto Bughetti O. F. M.: Alcune idee fondamentali sui „Fioretti di S. Francesco“, in: Archivum Franciscanum
historicum, XIX, 1926, S. 321—333; u. ders.: I Fioretti di S. Francesco . . . a. a. O. — Den Hinweis auf die Arbeiten
P. Bughettis verdanke ich P. Leonardus hemmens O. F. M. in Rom.
JULIE GY.-WILDE
Arenakapelle dargestellt. Die Komposition ist eine Neuschöpfung Giottos3). Um den hohen Stufenthron
Gottes ist der blaue Grund in ziemlich breiter Fläche leer geblieben. Vier große Engel stehen ohne
jede Fußstütze in diesem leeren Raum; sie bilden mit Gott-Vater den zentralen Teil der Komposition,
während die übrigen Engel in dicht gedrängten, nahezu symmetrischen Gruppen, musizierend und singend,
im Zwiegespräch oder ihr Staunen ausdrückend, auf beiden Seiten schweben. Weiße Wölkchen
sind unter den Füßen der „Schwebenden“ sichtbar, ihre Gewänder sind aus dünnerem, flatterndem
Stoffe. Die zwei „Stehenden“ vorne tragen Szepter; sie wenden den „Schwebenden“ den Rücken zu,
und um die Trennung noch klarer zu machen, ist jeweils der erste schwebende Engel hinter ihnen bild-
einwärts sprechend dargestellt. Mit dieser von der Mitte weg strebenden Bewegung zur Tiefe beginnt
der geschlossene rhythmische Reigen der „Schwebenden“; je zwölf Figuren sind auf beiden Seiten halb-
kreisförmig in Gruppen zu sechs und in doppelten Reihen angeordnet. In den Zwickeln immer zwei Engel-
kinder als Tubenbläser. — Der Engel zur Rechten Gottes schreitet mit zurückgeworfenem Kopfe, mit
gefühlvoller Gebärde vor; der zu seiner Linken steht gerade und kreuzt die Arme, sein Gesichtsausdruck
ist streng und unerbittlich. Es ist wahrscheinlich, daß in diesen beiden Gestalten die flehende „Barm-
herzigkeit“ und die auf ihr Recht bestehende „Wahrheit“ sich gegenüberstehen. Dann wären in den
vorderen Szepterträgern der Friede und die Gerechtigkeit zu erkennen. H. Bryda4) spricht, wie Rin-
telen und andere, nur von zwei Figuren neben dem Throne Gottes. Sie glaubt in ihnen zwei Erzengel
zu erkennen und deutet das Bild als „Aussendung des Erzengels Gabriel“. Die Aussendung ist in den
Meditationes der Abschluß der himmlischen Szene. Wären hier „vier“ Erzengel dargestellt, dann wäre
das ganze Bild eine freie Erfindung Giottos, ein einzigartiger Fall, der der unpersönlichen Gestaltungs-
weise der mittelalterlichen Kunst und auch der des Trecento durchaus widerspricht. Alle kompositio-
nellen Neuschöpfungen des Trecento, also alle jene Bilder, für die keine ikonographische Tradition nach-
weisbar ist, sind Illustrationen bestimmter Texte oder allegorischer Gedankengänge. Dvorak hat die
Werke dieser Kunstrichtung als „gemalte Literatur“ bezeichnet5). Im Laufe der Entwicklung gewinnen
in solchen Werken die erklärenden Attribute immer an Bedeutung. Giotto hat diese äußerliche Fest-
legung nicht oder doch nur nebenbei verwendet, der Sinn des Geschehens oder der verkörperten Idee
ist bei ihm im Ausdruck des Gesichtes, der Gebärde verborgen; eine richtige Deutung ist nur aus ihr
und aus der Gesamtgestalt des Bildes zu gewinnen. Wenn man nun den individuell bezeichneten Aus-
druck der zwei oberen Gestalten und den Ernst der zwei unteren mit den liebevollen, lächelnden oder
staunenden Blicken der im Reigen schwebenden Engel vergleicht, kann über den wahren Sinn der Szene
im Himmel kein Zweifel bestehen: die Erzählung der „Meditationes“ hat Giotto zu dieser wunderbaren
Komposition inspiriert.
2. Die Beantwortung der zweiten Frage, ob die „Considerazioni“ Giotto schon bekannt sein konnten,
begegnet der doppelten Schwierigkeit, daß weder die Entstehungszeit der „Fioretti“ noch die der Bardi-
kapelle genau festgestellt werden kann. Erst in jüngster Zeit haben die Forschungen Paul Sabatiers und
P. Benvenuto Bughettis einige Klarheit über das Herkunftsproblem der „Fioretti“ gebracht. Sabatier
und A. G. Little haben die lateinische Quelle, aus der die Fioretti im engeren Sinne, d. h. die ersten
53 Kapitel der italienischen Fassung zusammengestellt sind, die „Actus beati Francisci et sociorum eins“
erkannt und veröffentlicht6). Sämtliche Kapitel der „Fioretti“ sind in den reichhaltigeren „Actus“
enthalten, doch in anderer Reihenfolge und verstreut unter Erzählungen, die in den „Fioretti“ nicht
verwendet sind. Während man früher einen verlorenen lateinischen Text zwischen „Fioretti“ und „Actus“
3) Rintelen, a. a. O. S. 84—85 meint, daß Giotto von der Ducentokunst Anregungen zu dieser Komposition empfangen
habe und weist auf das Apsismosaik von S. Maria Maggiore in Rom hin. Dieser Zusammenhang ist sehr allgemeiner
Natur. Meines Wissens ist eine himmlische Szene dieser Art niemals in Verbindung mit der Verkündigung dargestellt
worden.
4) a. a. O.
5) Geschichte der italienischen Kunst, I. Bd. (München 1927), S. 50.
6) Actus beati Francisci et sociorum eins“ ed. Paul Sabatier, in: Collection d’etudes et de documents sur l’histoire
religieuse du moyen äge, t. IV; u. ders.: „Floretum S. Francisci Assisiensis“, Paris 1902; A. G. Little, Un nouveau
manuscrit franciscain, ancien Philippe 12290 . . . in: „Opuscules de critique historique“, t. III, fase. 1, Paris 1914—1919;
P. Benvenuto Bughetti O. F. M.: Alcune idee fondamentali sui „Fioretti di S. Francesco“, in: Archivum Franciscanum
historicum, XIX, 1926, S. 321—333; u. ders.: I Fioretti di S. Francesco . . . a. a. O. — Den Hinweis auf die Arbeiten
P. Bughettis verdanke ich P. Leonardus hemmens O. F. M. in Rom.