H. TIETZE / DÜRERLITERATUR UND DÜRERPROBLEME
IM JUBILÄUMSJAHR
Das Dürerjahr hat ein herzliches Bekenntnis
des deutschen Volkes zu seinem Meister gebracht.
Selbst wenn man von den mündlichen und schrift-
lichen Äußerungen, die die Gelegenheit veranlaßt
hat, in Abzug bringt, was der Festrhetorik und
Festkonvention angehört, bleibt doch der Eindruck
ungemindert, daß ihm Dürer nach wie vor als der
Meister schlechtweg gilt, als der Künstler, der am
meisten von seinem widerspruchsreichen, in keine
Formel einzuspannenden geistigen Wesen enthält.
Hier spricht ein in seinen Grundfesten nicht zu
erschütternder Instinkt, dem gegenüber die ge-
legentlich auftauchenden Ansprüche anderer künst-
lerischer Erscheinungen, die besondere nationale
Begabung noch eindringlicher zu verkörpern, zu
bloß kunsthistorischenEpisoden zusammenschrump-
fen. Es mag ja sein, daß Grünewald oder die große
Plastik des XIII. Jahrhunderts ihre Wurzeln noch
tiefer in unterste Schichten deutschen Wesens trei-
ben und einem entsprechend gerichteten Jetzt-
gefühl zum unerhörten Erlebnis zu werden ver-
mögen; aber solche aktuelle Ereignisse, die, ins
Ästhetische gefaßt, empfängliche Menschen zutiefst
berühren und erschüttern, können sich dennoch
nicht mit der Bedeutung messen, zu der Dürer im
Bewußtsein der Nation gewachsen ist. Hier gesellt
sich zum ewig jungen, in seinen einzelnen Auswir-
kungen schwankenden Erlebnis der Werke die blei-
bende Macht der Persönlichkeit; die Summe der
biographischen und künstlerischen Tatsachen wird
von der Teilnahme vieler Jahrhunderte zu einer
neuen Einheit geschmiedet. Dürer ist dem allge-
meinen Empfinden, was er schon seinen Zeit-
genossen erschien; nicht einfach höhergradig als
die tüchtigen Meister, die seine Schaffenszeit so
fruchtbar machen, sondern andersartig wie sie; als
der Künstler und Mensch, der die Forderung der
Stunde so tief verstand, daß er berufen war, nicht
nur der Mann des Schicksals für die deutsche
Kunst, sondern einer der vereinzelten Vertreter des
deutschen Geistes überhaupt zu sein. Was dem
Volksempfinden ein sicherer Besitz ist, gilt in der
engherzigen Wissenschaft von heute als ein ängst-
lich zu meidendes Pathos; das Verlangen, statt des
bloßen Stückwerks, das Fachgelehrsamkeit zu ihren
Mosaikspielen zusammensetzt, des Künstlers in der
ganzen Fülle habhaft zu werden, mit der er seinem
Volk lebendig geblieben ist, erscheint dem gerade
auf diesem Teilgebiet nachwirkenden historischen
Positivismus als ein frevelhaftes Unterfangen. Ist
Michelangelo wirklich nur jener Künstler, der etwas
bessere Akte und mächtigere Kompositionen schuf
als seine Zeitgenossen; beruht nicht die Vergött-
lichung, die seiner Person noch zu Lebzeiten zuteil
ward und Liebe und Haß der Nachwelt bestimmte,
auf einem viel tieferen — und viel richtigeren —
Gefühl seiner mythischen Kraft, seiner zum Symbol
von Zeit und Nation sich erhebenden Bedeutung?
Was die zeitgenössische Literatur über Michelangelo
in ihrer durch lang währende ästhetische Einstel-
lung fügsam gewordenen Kunstsprache glaubhaft
und selbstverständlich machen konnte, verleiht auch
dem dürren Latein der Humanisten, die Dürers
künstlerischen Qualitäten fühllos gegenüberstanden,
den sehr merklichen Unterton. Ihr von persönlicher
Berührung erfülltes Zeugnis hat diesen Eindruck
von Besonderheit und Unvergleichbarkeit tief genug
geprägt, daß ihn die nächsten Jahrhunderte wach-
sender Verständnislosigkeit nicht ganz vernichteten,
bis ihm durch den jungen Goethe neuer Sinn zu-
strömte.
Das wesentlichste neue Dokument über Dürer,
das in diesem Jahr bekannt worden ist, die über-
sehene Stelle in des Johannes Cochlaeus Ausgabe
von Pomponius Melas Cosmographia (Nürnberg
1512), die Otto Kurz in der Zeitschrift für bildende
Kunst, 1928, 39 veröffentlicht hat, bezeugt die klare
Einsicht der Zeitgenossen in die Sonderstellung des
Meisters, dessen internationale Bedeutung nach-
drücklich hervorgehoben wird. Seine Passions-
folgen — der kleinen hatte Cochlaeus selbst ein
Jahr davor ein Hexastichon zugefügt — würden von
den Kaufleuten aus ganz Europa als Vorlagen für
ihre einheimischen Künstler eingekauft. Auch die
zweite neu erschlossene urkundliche Quelle, der
Brief Beheims, der von einer Schweizerreise Dürers
im Jahr 1519 Kunde gibt und eine neuerliche Be-
rührung mit italienischer Kunst an Ort und Stelle
ins Bereich des Möglichen rückt (E. Reicke in Fest-
schrift zur 400jährigen Gedächtnisfeiei’ Dürers, Mit-
teilungen des Vereines für Geschichte der Stadt
Nürnberg, B. XXVIII, 1928), hebt Dürer aus dem
Durchschnitt seiner Zunftgenossen grundsätzlich
heraus.
IM JUBILÄUMSJAHR
Das Dürerjahr hat ein herzliches Bekenntnis
des deutschen Volkes zu seinem Meister gebracht.
Selbst wenn man von den mündlichen und schrift-
lichen Äußerungen, die die Gelegenheit veranlaßt
hat, in Abzug bringt, was der Festrhetorik und
Festkonvention angehört, bleibt doch der Eindruck
ungemindert, daß ihm Dürer nach wie vor als der
Meister schlechtweg gilt, als der Künstler, der am
meisten von seinem widerspruchsreichen, in keine
Formel einzuspannenden geistigen Wesen enthält.
Hier spricht ein in seinen Grundfesten nicht zu
erschütternder Instinkt, dem gegenüber die ge-
legentlich auftauchenden Ansprüche anderer künst-
lerischer Erscheinungen, die besondere nationale
Begabung noch eindringlicher zu verkörpern, zu
bloß kunsthistorischenEpisoden zusammenschrump-
fen. Es mag ja sein, daß Grünewald oder die große
Plastik des XIII. Jahrhunderts ihre Wurzeln noch
tiefer in unterste Schichten deutschen Wesens trei-
ben und einem entsprechend gerichteten Jetzt-
gefühl zum unerhörten Erlebnis zu werden ver-
mögen; aber solche aktuelle Ereignisse, die, ins
Ästhetische gefaßt, empfängliche Menschen zutiefst
berühren und erschüttern, können sich dennoch
nicht mit der Bedeutung messen, zu der Dürer im
Bewußtsein der Nation gewachsen ist. Hier gesellt
sich zum ewig jungen, in seinen einzelnen Auswir-
kungen schwankenden Erlebnis der Werke die blei-
bende Macht der Persönlichkeit; die Summe der
biographischen und künstlerischen Tatsachen wird
von der Teilnahme vieler Jahrhunderte zu einer
neuen Einheit geschmiedet. Dürer ist dem allge-
meinen Empfinden, was er schon seinen Zeit-
genossen erschien; nicht einfach höhergradig als
die tüchtigen Meister, die seine Schaffenszeit so
fruchtbar machen, sondern andersartig wie sie; als
der Künstler und Mensch, der die Forderung der
Stunde so tief verstand, daß er berufen war, nicht
nur der Mann des Schicksals für die deutsche
Kunst, sondern einer der vereinzelten Vertreter des
deutschen Geistes überhaupt zu sein. Was dem
Volksempfinden ein sicherer Besitz ist, gilt in der
engherzigen Wissenschaft von heute als ein ängst-
lich zu meidendes Pathos; das Verlangen, statt des
bloßen Stückwerks, das Fachgelehrsamkeit zu ihren
Mosaikspielen zusammensetzt, des Künstlers in der
ganzen Fülle habhaft zu werden, mit der er seinem
Volk lebendig geblieben ist, erscheint dem gerade
auf diesem Teilgebiet nachwirkenden historischen
Positivismus als ein frevelhaftes Unterfangen. Ist
Michelangelo wirklich nur jener Künstler, der etwas
bessere Akte und mächtigere Kompositionen schuf
als seine Zeitgenossen; beruht nicht die Vergött-
lichung, die seiner Person noch zu Lebzeiten zuteil
ward und Liebe und Haß der Nachwelt bestimmte,
auf einem viel tieferen — und viel richtigeren —
Gefühl seiner mythischen Kraft, seiner zum Symbol
von Zeit und Nation sich erhebenden Bedeutung?
Was die zeitgenössische Literatur über Michelangelo
in ihrer durch lang währende ästhetische Einstel-
lung fügsam gewordenen Kunstsprache glaubhaft
und selbstverständlich machen konnte, verleiht auch
dem dürren Latein der Humanisten, die Dürers
künstlerischen Qualitäten fühllos gegenüberstanden,
den sehr merklichen Unterton. Ihr von persönlicher
Berührung erfülltes Zeugnis hat diesen Eindruck
von Besonderheit und Unvergleichbarkeit tief genug
geprägt, daß ihn die nächsten Jahrhunderte wach-
sender Verständnislosigkeit nicht ganz vernichteten,
bis ihm durch den jungen Goethe neuer Sinn zu-
strömte.
Das wesentlichste neue Dokument über Dürer,
das in diesem Jahr bekannt worden ist, die über-
sehene Stelle in des Johannes Cochlaeus Ausgabe
von Pomponius Melas Cosmographia (Nürnberg
1512), die Otto Kurz in der Zeitschrift für bildende
Kunst, 1928, 39 veröffentlicht hat, bezeugt die klare
Einsicht der Zeitgenossen in die Sonderstellung des
Meisters, dessen internationale Bedeutung nach-
drücklich hervorgehoben wird. Seine Passions-
folgen — der kleinen hatte Cochlaeus selbst ein
Jahr davor ein Hexastichon zugefügt — würden von
den Kaufleuten aus ganz Europa als Vorlagen für
ihre einheimischen Künstler eingekauft. Auch die
zweite neu erschlossene urkundliche Quelle, der
Brief Beheims, der von einer Schweizerreise Dürers
im Jahr 1519 Kunde gibt und eine neuerliche Be-
rührung mit italienischer Kunst an Ort und Stelle
ins Bereich des Möglichen rückt (E. Reicke in Fest-
schrift zur 400jährigen Gedächtnisfeiei’ Dürers, Mit-
teilungen des Vereines für Geschichte der Stadt
Nürnberg, B. XXVIII, 1928), hebt Dürer aus dem
Durchschnitt seiner Zunftgenossen grundsätzlich
heraus.