GIOTTO-STUDIEN
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gesetz keine Folge leisten. Krampfhaft halten die Maler am gewichtigen Volumen und an
der körperlichen Plastizität fest und so entsteht der Menschenschlag der Fresken der Baron-
cellikapelle, dem der im Kapitelsaal im Santo wesensverwandt ist. Giottos Kunst ist nicht
mehr das Fundament, auf dem gebaut wird, nur noch in Einzelheiten hält man sich an ihn.
Vergeblich würde man Giottos Kanon der Gewandfigur etwa im „Sprecher“ unseres Gol-
gothafragments suchen. Das Aufgreifen des Mantels von unten her ist zwar ein Lieblings-
motiv Giottos, das er, wohl auf dem Wege der Vermittlung durch Gavallini, der antik-römi-
schen Statuarik nachgebildet hat. Die Gesamtform aber — Tütenfalten über die vorgewölbte,
stark aufgelichtete Vorderseite der Figur gespannt, zwischen flankierenden Gehängen — lehnt
sich an die Gesetze nordisch-gotischer Skulptur an. Anders ist auch die Pinselführung; in
breiten Zügen gleitet sie nun über die Einzelform hinweg, die feine Modellierung der Ober-
fläche durch reich differenzierte Körperschatten tritt zurück. Die Linie löst sich von den
Hebungen und Senkungen der plastischen Form los, sie emanzipiert sich zu einer eigenen
Kaligraphie; infolgedessen kommt dem Umriß in der Innenzeichnung viel größere Bedeu-
tung zu.
Aus all diesen Eigenschaften resultiert jene Maniriertheit der Gesamterscheinung, die den
Werken dieser zweiten trecentesken Künstlergeneration in Florenz ihr unverkennbares Ge-
präge verleiht. Das Positive ihrer Leistung zu zeigen, kann unsere Aufgabe hier nicht sein;
ihr Stilcharakter konnte nur von einem beschränkten Gesichtswinkel, von dem Jüngsten
der „Giotto-Apokryphen“ her gesehen, gezeichnet werden. Wenn auch der Name des recht
bedeutsamen Malers des Capitolo unbekannt bleibt, und vorläufig kein anderes Werk seiner
Hand uns Auskunft über seine Tätigkeit gibt, so kann man doch wohl mit Sicherheit fest-
stellen, daß er ein Florentiner der Generation Taddeo Gaddis war.
EXKURS I (zu S. 52)
ZUR IKONOGRAPHIE DER HIMMELFAHRT MARIÄ
Jene im Trecento so zahlreichen Kompositionen der Assumptio, die Maria in der Glorie thronend
mit betend gefalteten Händen, von fliegenden Engeln emporgetragen und einem musizierenden Engel-
chor begleitet, darstellen, hat Ernest F. Dewald auf Pietro Lorenzettis heute verschwundenes, von Vasari
genau beschriebenes Fresko in der Pieve von Arezzo zurückzuführen gesucht1). Ob diese Plypothese
zu Recht bestehen kann, bleibe dahingestellt; außer Vasaris anekdotenhafter Erzählung gibt es keinen
Anhaltspunkt zur Datierung dieses Werkes2). (Als einen selbständigen Typus beschreibt Dewald auch
Giottos Assunta in S. Croce, auf Abb. 29 reproduziert er sie nach einer arg verkürzten Kodakaufnahme.)
Zur Geschichte der Ikonographie der Assumptio bemerkt Dewald nur, daß in früheren Jahrhun-
derten die Himmelfahrt nur im Zusammenhang mit der Sterbeszene Mariä dargestellt worden sei. Zwei
Bildtypen sind aber von ihm verwechselt worden: der der „Dormitio“ und der der „Assumptio“. Ihre
Geschichte führt weit zurück in die altchristliche, beziehungsweise in die romanische Epoche.
*) The master of the Ovile Madonna, Art Studies I (An extra number of the American Journal of Archeology), 1923,
S. 48 ff.
2) Vgl. auch den kürzlich erschienenen Artikel von Hermann Beenken in der Zeitschr. f. bild. Kunst, 1928, S. 73 ff.
Der hier versuchten Zuschreibung des Münchener Assuntabildchens (Ältere Pinakothek Nr. 986) an Simone Martini
selbst muß aufs entschiedenste widersprochen werden. Die Hypothese, daß die „sienesische Assumptiokomposition“
letzten Endes auf diesen Meister zurückgeht, hat manches für sich, doch bleibt sie unbeweisbar, ebenso wie die An-
nahme Dewalds.
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gesetz keine Folge leisten. Krampfhaft halten die Maler am gewichtigen Volumen und an
der körperlichen Plastizität fest und so entsteht der Menschenschlag der Fresken der Baron-
cellikapelle, dem der im Kapitelsaal im Santo wesensverwandt ist. Giottos Kunst ist nicht
mehr das Fundament, auf dem gebaut wird, nur noch in Einzelheiten hält man sich an ihn.
Vergeblich würde man Giottos Kanon der Gewandfigur etwa im „Sprecher“ unseres Gol-
gothafragments suchen. Das Aufgreifen des Mantels von unten her ist zwar ein Lieblings-
motiv Giottos, das er, wohl auf dem Wege der Vermittlung durch Gavallini, der antik-römi-
schen Statuarik nachgebildet hat. Die Gesamtform aber — Tütenfalten über die vorgewölbte,
stark aufgelichtete Vorderseite der Figur gespannt, zwischen flankierenden Gehängen — lehnt
sich an die Gesetze nordisch-gotischer Skulptur an. Anders ist auch die Pinselführung; in
breiten Zügen gleitet sie nun über die Einzelform hinweg, die feine Modellierung der Ober-
fläche durch reich differenzierte Körperschatten tritt zurück. Die Linie löst sich von den
Hebungen und Senkungen der plastischen Form los, sie emanzipiert sich zu einer eigenen
Kaligraphie; infolgedessen kommt dem Umriß in der Innenzeichnung viel größere Bedeu-
tung zu.
Aus all diesen Eigenschaften resultiert jene Maniriertheit der Gesamterscheinung, die den
Werken dieser zweiten trecentesken Künstlergeneration in Florenz ihr unverkennbares Ge-
präge verleiht. Das Positive ihrer Leistung zu zeigen, kann unsere Aufgabe hier nicht sein;
ihr Stilcharakter konnte nur von einem beschränkten Gesichtswinkel, von dem Jüngsten
der „Giotto-Apokryphen“ her gesehen, gezeichnet werden. Wenn auch der Name des recht
bedeutsamen Malers des Capitolo unbekannt bleibt, und vorläufig kein anderes Werk seiner
Hand uns Auskunft über seine Tätigkeit gibt, so kann man doch wohl mit Sicherheit fest-
stellen, daß er ein Florentiner der Generation Taddeo Gaddis war.
EXKURS I (zu S. 52)
ZUR IKONOGRAPHIE DER HIMMELFAHRT MARIÄ
Jene im Trecento so zahlreichen Kompositionen der Assumptio, die Maria in der Glorie thronend
mit betend gefalteten Händen, von fliegenden Engeln emporgetragen und einem musizierenden Engel-
chor begleitet, darstellen, hat Ernest F. Dewald auf Pietro Lorenzettis heute verschwundenes, von Vasari
genau beschriebenes Fresko in der Pieve von Arezzo zurückzuführen gesucht1). Ob diese Plypothese
zu Recht bestehen kann, bleibe dahingestellt; außer Vasaris anekdotenhafter Erzählung gibt es keinen
Anhaltspunkt zur Datierung dieses Werkes2). (Als einen selbständigen Typus beschreibt Dewald auch
Giottos Assunta in S. Croce, auf Abb. 29 reproduziert er sie nach einer arg verkürzten Kodakaufnahme.)
Zur Geschichte der Ikonographie der Assumptio bemerkt Dewald nur, daß in früheren Jahrhun-
derten die Himmelfahrt nur im Zusammenhang mit der Sterbeszene Mariä dargestellt worden sei. Zwei
Bildtypen sind aber von ihm verwechselt worden: der der „Dormitio“ und der der „Assumptio“. Ihre
Geschichte führt weit zurück in die altchristliche, beziehungsweise in die romanische Epoche.
*) The master of the Ovile Madonna, Art Studies I (An extra number of the American Journal of Archeology), 1923,
S. 48 ff.
2) Vgl. auch den kürzlich erschienenen Artikel von Hermann Beenken in der Zeitschr. f. bild. Kunst, 1928, S. 73 ff.
Der hier versuchten Zuschreibung des Münchener Assuntabildchens (Ältere Pinakothek Nr. 986) an Simone Martini
selbst muß aufs entschiedenste widersprochen werden. Die Hypothese, daß die „sienesische Assumptiokomposition“
letzten Endes auf diesen Meister zurückgeht, hat manches für sich, doch bleibt sie unbeweisbar, ebenso wie die An-
nahme Dewalds.
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