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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 4.1909

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Lange, Konrad: Zur Philosophie der Kunstgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.3531#0108
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BEMERKUNGEN.

Übersetzung ihrer klaren Bildvorstellungen in die Malerei gar keine Schwierigkeiten
bereitete. An Zeit, sich dieser Tätigkeit hinzugeben, fehlte es ihnen nicht. Denn
wie alle auf niederer Kulturstufe stehenden Menschen waren sie faul. Die Jagd
war ihre Lieblingsbeschäftigung. Sie füllte aber ihre Tage nur teilweise aus. In
den großen Pausen zwischen den Jagden vertrieben sie sich die Zeit damit, die Tiere
aus der Erinnerung aufzuzeichnen, deren Jagd ihr eigentlicher Beruf war. Und beim
Anblick dieser Zeichnungen genossen sie noch einmal in der Erinnerung alle Auf-
regungen und Triumphe der Jagd, dachten sie vielleicht auch an die materiellen
Genüsse, die ihnen das Fleisch ihrer Jagdtiere verschafft hatte.
Ganz anders die Neolithiker und ihre Nachfolger. Sie waren nicht nur Jäger
und Fischer, sondern daneben, später wohl vorwiegend, Ackerbauer und Viehzüchter.
Sie bildeten schon größere Stammesgemeinschaften, hatten verschiedene Industrien
ausgebildet, webten Gewänder, schmiedeten Waffen, führten Kriege mit ihren Nach-
barn u. s. w. Kurz sie hatten viel mehr zu tun als ihre Vorfahren. Infolge ihrer
Arbeitsteilung war ihnen die enge Verbindung mit der Tierwelt verloren gegangen.
Handwerk und Industrie verlangten eine Anpassung der Naturnachahmungen an be-
stimmte dekorative Zwecke, woraus sich schon eine gewisse Stilisierung ergab. Der
Massenbetrieb, zu dem sie übergegangen waren, zwang sie zu raschem Arbeiten
und nahm ihnen die Liebe zur Ausführung des Einzelnen, zur soliden künstlerischen
Durcharbeitung. Dazu kam, daß sie, infolge ihrer anderweitigen Beschäftigung,
handwerkliche und künstlerische Arbeiten gern den Frauen überließen. Diese aber
bildeten, nach der geduldigen, aber etwas beschränkten Art ihres Geschlechts, jenen
vereinfachten, geistlos geometrischen Stil aus, den wir von den Erzeugnissen dieser
Zeit kennen.
Neuerdings hat der Göttinger Physiolog Verworn in einem interessanten Schrift-
chen »Zur Psychologie der primitiven Kunst« neben diesen Einflüssen noch andere
geistigerer Art geltend gemacht, über deren Bedeutung man sich jedenfalls ver-
ständigen sollte '). Verworn legt den Schwerpunkt darauf, daß die Kunst der
Paläolithiker in direkter Nachahmung der Natur entstanden, diejenige der Späteren
dagegen mit Ideen, phantastischen Vorstellungen durchsetzt sei. Jene gebe nur
das wieder, was die Künstler unmittelbar vor Augen gehabt hätten, diese arbeite aus
der Erinnerung und schildere, abgesehen von Menschen und Tieren, auch Götter,
Dämonen u. s. w. Jene wolle nur die Natur darstellen wie sie ist, diese verfolge mit
ihrer Naturdarstellung bestimmte religiöse Zwecke, was man schon aus den Amu-
letten, Idolen u. s. w. erkenne, die damals angefertigt wurden. Dementsprechend
nennt er die ältere Kunst »physioplastisch«, die jüngere »ideoplastisch«. Den
Unterschied in der Arbeitsweise beider Richtungen setzt er physiologisch in folgender
Weise auseinander: Beim Zeichnen nach der Natur wird der auf den sensorischen
Apparat unseres Nervensystems wirkende Reiz des Naturvorbildes von der Netzhaut
und den Ganglienzellen der Sehnerven direkt in den motorischen Apparat übergeführt.
Dieser, d. h. die Ganglienzellen der Bewegungsnerven, veranlassen die Muskelbewe-
gung des Zeichners. Bei den Naturalisten der älteren Zeit, die — nach Verworns
Auffassung — die Natur direkt kopierten, schob sich nichts zwischen den sensorischen
und motorischen Apparat, die gesehene Form setzte sich sofort und unmittelbar in
das Bild um. Bei den stilisierenden Künstlern der jüngeren Generation dagegen,
die nach Verworn aus dem Gedächtnis zeichneten, schoben sich zwischen die beiden
Apparate, d. h. zwischen die Ganglienzellen der Sehsphäre und diejenigen der

') Abdruck aus der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift, N. F. VI. Bd., der
ganzen Reihe XXII. Bd., Nr. 44, 1907. Verlag von Gustav Fischer, Jena 1908.
 
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