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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 4.1909

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Prinzhorn, Hans: Gottfried Sempers ästhetische Grundanschauungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3531#0245
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GOTTFRIED SEMPERS ÄSTHETISCHE GRUNDANSCHAUUNGEN. 241

der Hand, die es führt, der zu behandelnde Stoff, das in die Form um-
zuschaffende Formlose. Zunächst der Stoff als physische Materie, den
jedes Werk der Kunst in seinem Erscheinen gleichsam reflektieren soll
(Marmor- und Porostempel). Aber unter Stoff versteht man noch
etwas Höheres, nämlich die Aufgabe, das Thema zu künstlerischer
Verwertung.« Dieses »inhaltliche Moment der Kunstgestaltung« ist
»das Wichtigste und Entscheidendste«. Ganz allgemein gefaßt ist
Stoff und Gegenstand aller Kunstbestrebungen niemand anders als der
Mensch »in allen seinen Verhältnissen und Beziehungen zur Außen-
welt« und zwar
1. als Individuum (die Familie),
2. der kollektive Mensch, der Staat,
3. das Menschtum, das Menschenideal als höchste Kunstaufgabe.
Berücksichtigen wir diese prinzipiellen Erklärungen, so können die
vielfach eingestreuten Äußerungen über Material und Stil nicht falsch
bewertet werden. Für die richtige Ausnutzung des Materials stellt
Semper mehrere Gesetze auf (Kl. Sehr. 280).
1. Es soll stets das Material benutzt werden, das sich für die vor-
liegende Aufgabe am besten eignet.
2. Aus dem Material muß jeder mögliche Vorteil gezogen werden;
dabei sind wohl die Grenzen zu beachten, welche die dem Gegen-
stände zu Grunde liegende Idee bedingt.
3. Das Material ist nicht bloß als eine passive Masse, sondern als
ein Mittel, als ein mitwirkendes Element der Anregung zur Erfindung
zu betrachten.
Hierher gehört auch das viel zitierte Wort: »aus der Not eine
Tugend machen«, das Semper bei der Besprechung der Naht als Kunst-
symbol anwendet und zu dieser technischen Zweckform in direkte
Beziehung setzt (Stil I, 73). Mancher verfänglich klingende Satz be-
stätigt in Wirklichkeit nur die hier betonte Meinung Sempers, z. B.
wenn er sagt: auf der Eigenschaft eines Produktes, »eine gleichsam
natürlich abgeleitete Konsequenz des Rohstoffs zu sein und so zu
erscheinen, beruht eine wesentliche und die erste technische Stil-
gerechtigkeit eines Werkes« (Stil I, 90). Viel stärker aber fallen einige
Stellen ins Gewicht, in denen er seine Grundanschauungen unab-
hängig von allen Spezialfällen ausspricht. So wendet er sich ausdrück-
lich gegen die »Materiellen« (Proleg. XV): »Sie trifft im allgemeinen
der Vorwurf, die Idee zu sehr an den Stoff geschmiedet zu haben
durch die Annahme des unrichtigen Grundsatzes, es sei die archi-
tektonische Formenwelt ausschließlich aus stofflichen konstruktiven
Bedingungen hervorgegangen und ließe sich nur aus diesen weiter
entwickeln; da doch vielmehr der Stoff der Idee dienstbar und keines-
Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. IV. 16
 
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