BESPRECHUNGEN.
275
Bildgehalt einzutreten.« Wir sehen: mit dem streng theoretischen Begriff des
Objekts ist hier nichts auszurichten. Und eine solche Vereinfachung oder »Ver-
stümmelung« hebt sogar die Bedeutung des Dargebotenen.
In der Dichtkunst zeigt sich wiederum, daß wir die wollenden Wesen mit der
gleichen Unmittelbarkeit fassen, mit der wir der Dinge gewiß sind. Sie gibt die
Mitwelt der wollenden Wesen wieder; ihre Aufgabe ist nicht Darstellung der Außen-
welt. Hier wird Münsterberg durch sein Schema zu einer Einseitigkeit gedrängt,
die den richtigen Kern des Gedankens zu dogmatischer Enge erstarrt. Die Dicht-
kunst will zwar niemals das geben, was Naturwissenschaft oder was Malerei gibt,
— aber es ist doch eine zu schroffe Beschränkung, daß die Natur für den Dichter
nur in Bezug auf den Menschen in Betracht komme! Fanden wir doch gerade in
Münsterbergs Naturbetrachtung ein spezifisch lyrisches Moment und konnten daher
erwarten, daß diese Verschmelzung von Ich und Natur in der Lyrik neben reiner
»Gefühlslyrik« gerade voll zu ihrem Rechte kommt. — Auch innerhalb der Dichtung
will Münsterberg das Schema von Außenwelt, Mitwelt, Innenwelt anwenden; sie
beziehen sich, wie leicht zu erraten, auf Epos, Drama und Lyrik.
In der Tonkunst schließt sich Münsterberg im wesentlichen der Richtung an,
die ein Abbilden von Dingen oder Gefühlen in der Musik verwirft. Auch hier
verirrt er sich bisweilen in phantastisch klingende Anthropomorphismen, so, wenn
er vom Wollen der Töne spricht. Ihr Streben wird unser Streben, und sie gestalten
unsere eigene Innenwelt zu einem einheitlichen Willensgefüge, — aber zu einem
Unwirklichen. Von einem metaphysischen Weltwillen ist hier natürlich nicht die
Rede. Während die anderen Künste uns mit den Dingen und Wesen mitwollen
lehren, leiten uns die Töne zu uns selbst zurück und verleihen uns die Harmonie.
— So hoch hier Münsterberg über den Theorien steht, die die Musik zu einem
bloßen Spiegel der Außenweltsgeschehnisse oder der bürgerlichen Gefühle ernie-
drigen, so ist ihm doch hier eine gar zu phantastische Auffassung vom Wollen der
Töne in die Quere gekommen. Das konstruktive Moment der Musik, das so ganz
abgelöst ist von den »Gestalten«, wie sie selbst das ästhetisch begriffene Objekt
der bildenden Kunst und die sprachliche Gestaltung in Worten, die ja Gegenstände
bezeichnen, aufzuweisen haben, ist eben am schwersten sinnfällig wiederzugeben.
Und doch zeigt gerade die Musik am reinsten das, was Münsterberg für eine ästhe-
tische Theorie anstrebt: völlige Loslösung von den Erfahrungsbegriffen.
Es konnte hier nur die allgemeine Gestaltung von Münsterbergs Ästhetik ge-
zeigt werden, und statt lebendiger Beispiele, wie sie sich dort in Fülle häufen,
mußte ein kurzer Hinweis auf einzelne ästhetische Fakta dienen. Aber auch aus
diesen mehr prinzipiellen Erörterungen zeigt sich, wie sehr Münsterberg durch
Zurückgehen auf das letzte Erlebnis und Verknüpfung desselben ausschließlich mit
dem ästhetischen Wert eine autonome Ästhetik anstrebt. Sie schließt nicht mit
metaphysischem Hochmut das wirkliche Kunsterlebnis von ihrem Rate aus, sondern
kann gerade, mehr als eine theoretisch orientierte Psychologie, auf seinen Sinn ein-
gehen. Der sichere Weg aber zur Anknüpfung dieser Data an eine rein idealistische
Wertlehre ist immer wieder das kritische Verfahren.
Lenore Ripke-Kühn.
Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft
der neueren Zeit. Verlag von Bruno Cassirer, Berlin. Bd. 1, 1906, XV u.
608 S.; Bd. 2, 1907, XIV u. 732 S. gr. 8°.
Über dies umfangreiche und — um es gleich vorweg zu sagen — ausgezeich-
nete Werk muß ich mich kurz fassen, da seine Beziehungen zur Ästhetik natur-
275
Bildgehalt einzutreten.« Wir sehen: mit dem streng theoretischen Begriff des
Objekts ist hier nichts auszurichten. Und eine solche Vereinfachung oder »Ver-
stümmelung« hebt sogar die Bedeutung des Dargebotenen.
In der Dichtkunst zeigt sich wiederum, daß wir die wollenden Wesen mit der
gleichen Unmittelbarkeit fassen, mit der wir der Dinge gewiß sind. Sie gibt die
Mitwelt der wollenden Wesen wieder; ihre Aufgabe ist nicht Darstellung der Außen-
welt. Hier wird Münsterberg durch sein Schema zu einer Einseitigkeit gedrängt,
die den richtigen Kern des Gedankens zu dogmatischer Enge erstarrt. Die Dicht-
kunst will zwar niemals das geben, was Naturwissenschaft oder was Malerei gibt,
— aber es ist doch eine zu schroffe Beschränkung, daß die Natur für den Dichter
nur in Bezug auf den Menschen in Betracht komme! Fanden wir doch gerade in
Münsterbergs Naturbetrachtung ein spezifisch lyrisches Moment und konnten daher
erwarten, daß diese Verschmelzung von Ich und Natur in der Lyrik neben reiner
»Gefühlslyrik« gerade voll zu ihrem Rechte kommt. — Auch innerhalb der Dichtung
will Münsterberg das Schema von Außenwelt, Mitwelt, Innenwelt anwenden; sie
beziehen sich, wie leicht zu erraten, auf Epos, Drama und Lyrik.
In der Tonkunst schließt sich Münsterberg im wesentlichen der Richtung an,
die ein Abbilden von Dingen oder Gefühlen in der Musik verwirft. Auch hier
verirrt er sich bisweilen in phantastisch klingende Anthropomorphismen, so, wenn
er vom Wollen der Töne spricht. Ihr Streben wird unser Streben, und sie gestalten
unsere eigene Innenwelt zu einem einheitlichen Willensgefüge, — aber zu einem
Unwirklichen. Von einem metaphysischen Weltwillen ist hier natürlich nicht die
Rede. Während die anderen Künste uns mit den Dingen und Wesen mitwollen
lehren, leiten uns die Töne zu uns selbst zurück und verleihen uns die Harmonie.
— So hoch hier Münsterberg über den Theorien steht, die die Musik zu einem
bloßen Spiegel der Außenweltsgeschehnisse oder der bürgerlichen Gefühle ernie-
drigen, so ist ihm doch hier eine gar zu phantastische Auffassung vom Wollen der
Töne in die Quere gekommen. Das konstruktive Moment der Musik, das so ganz
abgelöst ist von den »Gestalten«, wie sie selbst das ästhetisch begriffene Objekt
der bildenden Kunst und die sprachliche Gestaltung in Worten, die ja Gegenstände
bezeichnen, aufzuweisen haben, ist eben am schwersten sinnfällig wiederzugeben.
Und doch zeigt gerade die Musik am reinsten das, was Münsterberg für eine ästhe-
tische Theorie anstrebt: völlige Loslösung von den Erfahrungsbegriffen.
Es konnte hier nur die allgemeine Gestaltung von Münsterbergs Ästhetik ge-
zeigt werden, und statt lebendiger Beispiele, wie sie sich dort in Fülle häufen,
mußte ein kurzer Hinweis auf einzelne ästhetische Fakta dienen. Aber auch aus
diesen mehr prinzipiellen Erörterungen zeigt sich, wie sehr Münsterberg durch
Zurückgehen auf das letzte Erlebnis und Verknüpfung desselben ausschließlich mit
dem ästhetischen Wert eine autonome Ästhetik anstrebt. Sie schließt nicht mit
metaphysischem Hochmut das wirkliche Kunsterlebnis von ihrem Rate aus, sondern
kann gerade, mehr als eine theoretisch orientierte Psychologie, auf seinen Sinn ein-
gehen. Der sichere Weg aber zur Anknüpfung dieser Data an eine rein idealistische
Wertlehre ist immer wieder das kritische Verfahren.
Lenore Ripke-Kühn.
Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft
der neueren Zeit. Verlag von Bruno Cassirer, Berlin. Bd. 1, 1906, XV u.
608 S.; Bd. 2, 1907, XIV u. 732 S. gr. 8°.
Über dies umfangreiche und — um es gleich vorweg zu sagen — ausgezeich-
nete Werk muß ich mich kurz fassen, da seine Beziehungen zur Ästhetik natur-