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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 4.1909

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Waetzoldt, Wilhelm: Das theoretische und praktische Problem der Farbenbenennung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3531#0354
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WILHELM WAETZOLDT.

urteil genau zu bestimmen. Seitdem ist die methodisch wichtige
Frage leider fallen gelassen worden.
Marty hatte vorgeschlagen, Farbenbeurteilung und Farbengefühl
unter dem einen Begriff des »Farbensinnes« zusammenzufassen und
das Wort so zu gebrauchen, wie wir von einem »Sinn« für Musik zu
reden pflegen. Verstehen wir doch darunter auch nicht das Ton-
empfindungsvermögen, sondern den Umstand, daß jemand Urteilskraft
und Interesse der Musik entgegenbringt, an ihr Geschmack findet, sie
ästhetisch zu bewerten weiß. (Ein Analogon zu der Tatsache des
»Unmusikalisch-Seins« ist daher auch nicht, wie vielfach behauptet
wird, in der auf Empfindungsanomalien beruhenden Farbenblindheit
zu suchen, sondern einzig und allein in einem Urteils- und Ge-
schmacksmangel Farbeneindrücken gegenüber.) Dem Vorteil der Kürze
in der Terminologie, den Martys Vorschlag für sich hat, steht aber
ein schwerwiegender Nachteil gegenüber: die Abweichung dieser Be-
griffsanwendung von der in der Psychologie und Physiologie allgemein
gebräuchlichen. Am besten wäre es vielleicht, das vieldeutige Wort
»Farbensinn« überhaupt zu meiden und lieber mit den eindeutigeren
der Farbenempfindung, des Farbenurteils und Farbengefühls zu arbeiten.
Wenn wir im folgenden von Farbenempfindung sprechen, soll
selbstverständlich nicht der Versuch gemacht werden, die physiologi-
sche Seite des psychophysischen Sehvorganges herauszulösen, also
etwa nur von Netzhaut- und Gehirnvorgängen zu reden. Das Wort
»Empfindung« wird vielmehr im Sinne der Psychologie als elemen-
tarer Bewußtseinsinhalt zu brauchen und den nicht elementaren
Inhalten, die in Verknüpfungen von Bewußtseinselementen bestehen,
gegenüberzustellen sein. Zu den Empfindungen gehören auch die
Vorstellungen, von denen es ebenso viele oder ebenso wenige Arten
gibt, wie von diesen. Ein anomal Farben Empfindender ist daher
auch ein anomal Farben Vorstellender.
Eine zweite Gruppe psychischer Erlebnisse umfaßt das Farbenurteil
und das Farbengefühl. Diese stehen zwar in mannigfachen Be-
ziehungen zur Farbenempfindung, sind jedoch mit dieser nicht iden-
tisch. So kann »Farbentüchtigkeit« begleitet sein von »Farbenurteil«;
auch bedingt sie noch keineswegs einen feinen Farbengeschmack.
Gleichheit im Empfindungsvermögen geht häufig mit Verschiedenheit
im Unterscheidungsvermögen zusammen. Auf dem Grunde einer sich
gleichbleibenden Farbenempfindungsanlage ist die Um- und Ausbil-
dung des Farbengefühles möglich. Die gleiche Empfindung Rot kann
für sich lustvoll, neben Blau unlustvoll betont sein, und dasselbe
Farbenerlebnis gefällt dem einen und mißfällt dem andern. Während
die Farbenempfindung das reine Sinneserlebnis, die Farbenvorstellung
 
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