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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 4.1909

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https://doi.org/10.11588/diglit.3531#0481
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BESPRECHUNGEN.

477

Gegensätze zum Schönen loszulösen von der »Schuld der Erscheinung« und der
Vorstellungswelt als solchen. Seidl übernimmt hier jenen intellektualistischen Irr-
tum Kants. Er glaubt das Erhabene dadurch höher zu heben als das Schöne und
übersieht, daß er es als ästhetische Kategorie vernichtet. Von der »Schuld der Er-
scheinung« kann das Ästhetisch-Erhabene wie alles Schöne nur dadurch erlösen,
daß es in diese Schuld selbst eingeht und sie — indem es ihr zur einen Hälfte
verhaftet bleibt — gerade dadurch überwindet. — Das Erhabene kann auch nicht
bezeichnet werden als das »Jenseits von Schön und Häßlich«, da es dem Häßlichen
ganz in der gleichen Weise gegenübersteht wie das Schöne, d. h. seiner bedarf als
dienendes Mittel der Charakteristik.
Wie fern Seidl im Grunde der fundamentalen Erkenntnis steht, daß das Er-
habene ganz wie das Schöne nur zu stände kommt durch die Immanenz der Idee
in der sinnlichen Erscheinung, geht aus seiner Behauptung hervor, daß beim er-
habenen Objekt die Idee als Mahnung stets noch außerhalb, als Ziel darüber
stehen bleibe und so als Anregung zur Erhebung, Stachel und Sporn fortwirke.
Das Zustandekommen einer bestimmten Art des Musikalisch-Erhabenen macht Seidl
davon abhängig, daß die Phantasie über die Formen und sinnlichen Zeichen
hinausschreite, das Linienspiel weiter über die konkret gegebene Grenze hinaus
fortsetze. Gerade der Kenner und Fachmusiker werde sich in seiner Phantasie an-
geregt fühlen, von dem sinnlich Gegebenen ins Unendliche weiter fortzu-
schreiten. Seidl glaubt zur Bestätigung dessen sich auf Karl Stumpf berufen zu
dürfen. Er selbst kommt beim Betrachten einer Kuppel auf die allersonderbarsten,
krausesten Ideen; seine Einbildungskraft fühlt sich angeregt, den Gewölbebau
über seine Grenzen hinauszuführen, ihn ins Unbestimmte fortzusetzen.
Jetzt können wir auch verstehen, warum Seidl so nachdrücklich betont, daß es
nicht fertige Erhobenheit sei, was er dem Erhabenen zuschreibe, sondern »ange-
regte«, da die Unendlichkeit selbst ja doch nie vollständig in einem sinnlichen Ob-
jekte vorhanden sein könne: »eine bereits angeschaute oder gehörte Unendlichkeit
wäre ein Unding«! Seidl ist eben nicht ganz vorgedrungen zu der Immanenz des
erhabenen Ausdrucksgehaltes in der sinnlichen Erscheinung, er kennt nicht Schel-
lings »Einbildung des Unendlichen ins Endliche«. Infolgedessen vermengt er die
Unmöglichkeit einer sinnlich angeschauten Unendlichkeit mit dem gefühlsmäßig zu
ergreifenden Geistig-Unendlichen. Vielleicht streift er das Richtige da, wo er das
Musikalisch-Erhabene als eine in dem sinnlichen Material des Tones »einzig nur
mehr durch die Form der Zeit als begrenzt empfundene Unermeßlichkeit« bezeich-
net. Ganz wird ihm aber nicht bewußt, daß es tatsächlich ein Unendliches ist, was
im erhabenen Objekte ergriffen wird und aus ihm zu uns spricht.
Für diejenige Kunst, welcher der Ausdruck des Erhabenen in besonderem Maße
zufalle, hält Seidl die Musik. Seine ganze Schrift gipfelt in der Frage, ob es denn
so sehr ausgemacht sei, daß Gehalt und Wesen der Tonkunst ein spezifisch
Schönes sein müsse. In irreleitender Weise deutet er Hanslicks Formalismus
als eine Bevorzugung des Schönen vor dem Erhabenen, während er selbst zu dem
Ergebnis kommt, daß das »bei den anderen Künsten maßgebende oder für maß-
gebend erachtete Schönheitsprinzip« für die Musik nicht ausreiche, diese vielmehr
ihrer eigensten Natur nach unter einer anderen Kategorie einzureihen sei als alle
übrigen Künste, nämlich unter der des Erhabenen. Seidl glaubt Hanslick gegenüber
eben dadurch die weitaus höhere und edlere Auffassung zu vertreten, daß er die
Musik zur Kunst des Erhabenen par excellence macht.
Diese Übertreibung ist wiederum charakteristisch für die an Richard Wagners
Einseitigkeiten anknüpfende neudeutsche Richtung, deren Urteil über Mozart wir
 
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