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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 4.1909

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https://doi.org/10.11588/diglit.3531#0484
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480

BESPRECHUNGEN.

Gedanke in der seltsamsten Weise verwendet und gegeneinander abgrenzt. Er
ist ja, wie wir wissen, nicht vertraut mit der konkreten intuitiven ästhetischen Idee,
infolgedessen auch nicht mit der Immanenz der Idee im Klangbilde oder in den
Tonformen, wodurch aller musikalisch-künstlerische Ausdruck ohne Ausnahme be-
dingt bleibt. Er versteht die Idee im Sinn irgend einer außermusikalischen, von
der Musik erst darzustellenden Vorstellung und meint daher, daß Ideen den Vor-
wurf für die Tonkunst zwar abgeben können, aber nicht unbedingt abgeben müssen.
Auch ohne Kommentar vermöge uns die Tonkunst ganz deutlich sehr wohl die
Idee zu versinnlichen. — Ähnlich geartet ist Seidls Charakteristik des musikalischen
»Gedankens*, der sich nur an den musikalischen Verstand, nicht aber auch an den
Willen wende.
Hanslick gegenüber legt Seidl eine Animosität an den Tag, die heutzutage
etwas antiquiert berührt und nur von dem ganz verstanden werden kann, der die
Zeiten des Wagner-Kampfes noch miterlebt hat. Seidl ist fest davon überzeugt, daß
Hanslicks Formalismus zurückgeführt werden dürfe auf den in Wien grassierenden
»sensualistischen Hedonismus des guten Essens und der leichten Verdauung, der
es sich gern an dem reizvollen Formspiel genügen läßt«. Daraus ergibt sich für
Seidl die Folgerung, daß gerade die entscheidendsten Theorien Hanslicks, da sie
»einer spezifisch-klimatischen Notwendigkeit des Denkens und oro-hydrographischen
Voraussetzung des Fühlens sozusagen ihre literarische Herkunft verdanken«, im
tiefsten Grunde unwiderlegbar bleiben, weil sie »eben der Sphäre des Willens
und nicht der des Intellekts zuletzt angehören«. — Seidl setzt sich mit Hanslick
auseinander über die Begriffe Form und Inhalt und kommt dabei selbst zu dem
Ergebnis, daß der Begriff »Form« in der Musik eine dreifache Bedeutung habe.
Er beruft sich auch hier wieder auf Karl Fuchs, der die Begriffe Form und Inhalt
aber im gröbsten Sinne deutet als Gefäß und den von ihm umschlossenen Inhalt,
woraus sich natürlich ergibt, daß Form und Inhalt keineswegs Korrelata sind,
sondern sehr wohl voneinander getrennt gedacht werden können. — Im ganzen
zeichnet sich Seidls Polemik gegen Hanslick mehr durch ehrliche Entrüstung als
durch schlagende Gründe aus.
Eine verhängnisvolle Unterlassung hat Seidl schließlich dadurch begangen, daß
er es versäumte, sich mit den namhaftesten Ästhetikern der jüngsten Zeit über sein
eigentliches Zentralproblem — das Erhabene — gründlich auseinanderzusetzen. Nur
Dessoir findet nähere Berücksichtigung, da Seidl ihm eine Bestätigung seiner eigenen
Auffassung entnimmt. Dies Ausweichen und Zurückscheuen vor vielleicht ein-
schneidenden Korrekturen und dieser Verzicht auf durchgreifende Verteidigung der
eigenen Position gegen die von allen Seiten anstürmende jüngste Ästhetik — ganz
abgesehen davon, ob diese im Rechte ist oder nicht —- gereicht der Schrift Seidls
nicht zum Vorteil. Ich bitte um die Erlaubnis, die von Seidl gelassene Lücke
wenigstens notdürftig ausgleichen und hier nur in den fundamentalsten Zügen
einige zeitgenössische Theorien des Erhabenen noch skizzieren zu dürfen, um
für die kritische Auseinandersetzung mit Seidl den umfassenden Hintergrund zu ge-
winnen.
Als Vertreter der speziellen Musikästhetik sei sogleich der auch von Seidl er-
wähnte Hermann Stephani genannt (»Das Erhabene insonderheit in der Ton-
kunst und das Problem der Form im Musikalisch-Schönen und -Erhabenen«, 1907).
Stephani bezieht sich mehrfach auf Seidl und polemisiert auch gegen ihn, vermag
ihn aber in keiner Weise zu ergänzen, da er selbst im Materialismus befangen
bleibt und ein warnendes Beispiel bietet für die von manchen so heiß ersehnte
Musik erästhetik. Stephani operiert mit dem Begriff der psychodynamischen Öko-
 
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