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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 4.1909

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Kreibig, Josef Klemens: Beiträge zur Psychologie des Kunstschaffens
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https://doi.org/10.11588/diglit.3531#0550
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JOSEF KLEMENS KREIBIG.

bestehen aus einem Komplex von »Bildern« im weitesten Sinne, d. h.
aus wahrnehmbaren Produkten der menschlichen Phantasie. Jedes
Bild für sich stellt einen zusammengesetzten Inhalt dar, dem als Ganzes
eine Gestaltqualität beschränkten Bereichs zukommt; diese Bilder treten
als Inhaltsbestandteile im Kunstwerke zu einer höheren Einheit mit
dem Merkmal einer umfassenden Gestaltqualität zusammen. Das Wohl-
gefallen am Kunstschönen, die »ästhetische Ergriffenheit«, hat ihre
Quelle einerseits in den Gefühlen, welche die einzelnen Elemente (der
Inhalt) auslösen, anderseits in der Lust, die aus dem Erfassen der
Gestalt (der Form, wie die Älteren mangelhaft sagten) fließt. Während
allem Schönen schlechthin die erste Art dieser Gefühle (die Art
der Inhaltsgefühle) zukommt, bedeutet die zweite (die Art der Gestalt-
gefühle) einen charakterisierenden Wertzuwachs der Kunst1).
Die einzelnen Szenen des Lear mit ihren für sich interessierenden
Inhalten und Gestalten bilden die Inhaltsteile des Gesamtdramas, das
eine übergeordnete Gestalt, die Idee der verletzten Liebe zwischen
Vater und Kind zum Ausdruck bringt. Die Eroica Beethovens schil-
dert in ihrer Totalität ein Heldenleben (wahrscheinlich das Bonapartes),
dessen einzelne Züge in den vier Sätzen der Symphonie zur tonbild-
lichen Darstellung gelangen; der Inhalt wird durch fünfzehn an sich
schöne Themen und Motive (Gestalten beschränkten Bereichs) ge-
tragen. Unschwer wäre es, dieselbe Beschaffenheit der ästhetischen
Struktur beim Parthenon oder in der Laokoongruppe aufzuzeigen.
Mit den soeben gelieferten Analysen ist zugleich auch der Schlüssel
für die Auffassung des Wesens der Phantasieleistung des Künstlers
gewonnen. Die Phantasie des schaffenden Talentes und Genies er-
zeugt nicht die Elemente, die eben durch äußeren Zufall, Erfahrungsstoff
und Reflexion geliefert werden, sondern die Gestaltqualitäten der Bilder
und des Gesamtwerks. Allerdings liegt auch in der glücklichen Wahl
der wirksamen Bestandteile des Inhalts ein auszeichnendes Vermögen,
und gerade in diesem Punkte pflegt man von einem speziellen Instinkt
des Finders zu sprechen. Ein solcher Instinkt ist aber selbst wiederum
eine Betätigungsform der Phantasie, welche in dargebotene, scheinbar
gleichgültige Einzelheiten die verbindende schöne Gestalt »hineinsieht«
oder »hineinhört« und so dem Wahlurteil den Weg weist2).

J) Zu den Gefühlen innerhalb des ästhetischen Eindrucks vgl. die treffenden
Ausführungen in Dessoirs Ästhetik S. 166—193.
2) Das Hineinverlegen des eigenen Seelischen in die Naturdinge, an welche
Phantasieleistung regelmäßig das Genießen der Schönheit dieser Dinge geknüpft
sein soll, hat die moderne Ästhetik bekanntlich »Einfühlung« genannt. Die ver-
schiedenen Fassungen des Einfühlungsprinzips durch Lipps, Volkelt, Witasek u. a.
behandelt Dessoir in seiner »Ästhetik und allg. Kunstwissenschaft«, Stuttgart 1906,
 
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