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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 4.1909

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https://doi.org/10.11588/diglit.3531#0601
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BESPRECHUNGEN.

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viduen) widerspricht durchaus dem pantheistischen Zug in Hebbels System x)- Die
Idee braucht die Individuen, wenn sie diese auch »einschluckt«, und zugleich reprä-
sentieren die Individuen nichts anderes als eben die Idee selbst, wenn auch zu-
nächst in ungeläuterter, nicht reiner Form. Wo sollte die von Hebbel jederzeit und
aufs nachdrücklichste betonte Versöhnung liegen, wenn die Idee nur einen Ver-
nichtungskampf gegen die Individuen bezweckte, den sie immer gewinnen muß?
Aber Schuder geht noch weiter und in seinem Eifer sogar so weit, die durchaus
unzweideutige Erklärung, die Hebbel über Mariamnes Schweigen abgibt, auf den
Kopf zu stellen, um sie in seinem Sinne auszubeuten: Hebbel sagt: Mariamne muß
schweigen, weil es, wenn sie spricht, von Herodes kein Verdienst mehr ist, daß
er den im ersten Akt gegebenen Befehl im dritten nicht wiederholt, wie er dann
sicher nicht tun würde oder auch nur tun könnte. Schuder bemerkt dazu: es wird
also für ein Verdienst angesehen, daß Herodes sie unters Schwert stellt und ihre
Individualität angreift (22). Hebbel sagt gerade das Gegenteil. Auch die klare
Begründung der Wiederkehr der gleichen Situation hat Schuder nicht recht ver-
standen. Nach Hebbel braucht Mariamne, um weiterleben zu können, die Über-
zeugung, daß Herodes doch beginnt, sie nicht nur als Sache zu behandeln; sie
kann diese Überzeugung aber nur dadurch erlangen, daß er, vor die gleiche Probe
gestellt, sie diesmal besteht. Darum muß die Situation sich wiederholen. Nach
Schuder ist des Herodes erneutes Fehlen nicht eine Steigerung seiner Schuld, son-
dern abermals ein Verdienst und ein zweiter Angriff der Idee auf Mariamne, der
nötig wird, weil der erste »abgeschlagen« wurde; denn Mariamne ließ sich den
ersten Blutbefehl nicht gefallen, sie tat, was ihre »Individualität«, was »das Leben«
ihr eingab, und dadurch »behielt das Leben* 2) den Sieg«, es schlug den Angriff der
Idee ab. Die doppelte Bedeutung ihres Unterganges hat Schuder wohl gefühlt,
aber nicht erkannt; ein »doppeltes Leben«, eine zweite Individualität, die nach Ver-
nichtung der ersten zu deren Rache emporwächst (19), besitzt sie nicht; vielmehr
ist ihr freiwillig herbeigeführter Untergang ihre Schuld, weil er ihre Rache an
Herodes ist, und zugleich deren Sühne. Auch vor einer doppelten Buße, für jede
ihrer beiden Individualitäten (20), ist keine Rede, und es ist ein weiterer großer Irr-
tum Schuders, zu glauben, die bloße Existenz eines Individuums genüge, um die Idee
herauszufordern3), wenn auch nach Hebbel die Existenz der Grund aller Schuld ist.
Die gerügte Auffassung führt zu der Behauptung, lebenswarme, heißblütige Menschen
auf die Bühne stellen, bedeute schon ein Überschreiten des Systems, ein sich Auf-
bäumen des »Lebens« gegen die Theorie (14), wovon Hebbels Tragödien, von der
Judith angefangen, immer deutlicher werdende Beweise liefern sollen (16, 18). Als
Hebbel Judiths Individualität erwachen ließ, obgleich doch schon das bloße Dasein

') Ich habe mich schon früher an der gleichen Stelle über Hebbels System ziem-
lich eingehend, wiewohl weniger ausführlich als in meiner von Schuder auch zi-
tierten Darstellung dieses Systems geäußert (diese Zeitschr. II. Band, 1. Heft, 70 ff.)
und beschränke mich hier unter Verzicht auf Zitate aus Hebbel auf das Aller-
nötigste.
2) Dieses »Leben« ist eine Erfindung Schuders, auf die wir zurückkommen
müssen.
3) Agnes Bernauer (vgl. 22) beweist nichts dagegen; sie fällt wegen der Ver-
wirrungen, die ihre Schönheit anrichtet, nicht weil sie schön ist, sonst müßte sie
längst untergegangen sein, als Herzog Albrecht nach Augsburg kommt. Darum
kann auch Rhodopes Tod nicht als »untragisch«, »geradezu beleidigend« und »grund-
los« aufgefaßt werden (24).
 
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