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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 4.1909

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https://doi.org/10.11588/diglit.3531#0301
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BESPRECHUNGEN.

297

Meinung durch, daß es sich um eine willkürliche Züchtung handle. Angenommen,
man habe eine solche in einzelnen Fällen festgestellt, so kann sie doch für das
Gros der Erscheinungen, die der Verfasser behandelt, keine Rolle spielen. Das
geniale Individuum aber als ein besonders gelungenes Züchtungsresultat aufzufassen
ist mindestens sehr kühn; denn wenn wir auch alle Faktoren feststellen könnten,
die bei der Entstehung und dem Schicksal eines Genies wirksam sind, so ist doch
das Individuum immer mehr als die Summe aller seiner Teile. Abgesehen also
davon, daß doch niemand alle Vorbedingungen lückenlos aufweisen kann, aus denen
sich allgemein und mit Notwendigkeit ein Genie ergibt, ist das, was uns das Genie
so wertvoll macht, immer das Unvergleichliche, was sich der naturwissenschaftlichen
Forschung entzieht. Zudem müßte eine solche Forschung im einzelnen Falle doch
immer bei den ersten Versuchen scheitern, und überraschenderweise gibt der Ver-
fasser auf der vorletzten Seite selbst zu: »Im einzelnen Falle versagt bei der Mangel-
haftigkeit der genealogischen Nachrichten und bei der Dunkelheit der Wege der
Blutmischung und Vererbung etc. sehr oft die Forschung.« Daher denn auch wahr-
scheinlich die Erörterungen oft so außerordentlich unbestimmt und in geheimnis-
voller Unklarheit gehalten sind.
Ich stelle ganz anheim, ob nicht auch der Stil daran schuld ist, daß bald die
Methode und der logische Zusammenhang zu versagen scheinen, bald der tatsäch-
lichen Lage der Dinge Gewalt angetan zu sein scheint. So heißt es z. B.: »Wenn
sich aus dieser gar nicht seltenen genialen Anlage« nämlich beim weiblichen Ge-
schlecht »bisher ein wirkliches weibliches Genie nicht häufig entwickelt hat, so ist
dies eben teils in der bisher geltenden Arbeitsteilung, teils in der damit zusammen-
hängenden Erziehung begründet.« Natürlich! muß ich erwidern. Irgend ein Grund
dafür wird sich schon finden lassen. Wenn das eine nicht die Ursache ist, ist es
eben das andere. Die Menschheitsgeschichte ist ja so umfassend und vielgestaltig,
daß man sich bloß umzuschauen braucht, um allenthalben etwas für den augen-
blicklichen Bedarf zu finden. Reibmayr fährt fort: »Dort, wo die äußeren und
inneren Verhältnisse der Erziehung und des Milieus der Entwickelung der genialen
Anlage günstig waren, wie dies z. B. da und dort auf dem Herrscherthrone der
Fall gewesen ist, sehen wir auch die geniale Knospe zur Blume sich entwickeln«
(54). Selbstverständlich! kann ich dazu nur wieder bemerken; wo die Verhältnisse
günstig sind, entwickelt sich etwas Tüchtiges, und die beste Entwickelung kann im
Keime erstickt werden, wenn man sie nicht aufkommen läßt. Das sind alles Tri-
vialitäten. Man braucht bloß die Fälle, in denen die Knospe sich entwickelt, zur
Bestätigung heranzuziehen — und der Beweis ist fertig; die unbequemen Fälle
finden schon ihre Verwendung in anderem Zusammenhänge. Oder: »Wenn wir
die Geschichte des menschlichen Geistes in großen Zügen übersehen, so machen
wir die Beobachtung, daß das Auftreten hervorragender Geister bei den einzelnen
Kulturvölkern meist an ganz bestimmte Perioden geknüpft ist. . .« (3). Diese
Perioden sind doch aber selbst erst das Resultat wissenschaftlicher Übersicht und
Zusammenfassung, und man sollte meinen, daß das Auftreten der hervorragenden
Geister seinerseits für die Abgrenzung von Perioden die Handhabe geboten hat.
Endlich: »Von der Zeit an, als sich der Mensch von der Natur und ihrer absoluten
Führung etwas emanzipierte und damit den Weg der Kultur zu betreten begann,
wurde er ein ,Kunsttier', da von nun an alles, was er tat, den Stempel einer freieren
Wahl an sich hatte und unter dem Einflüsse einer bewußten Idee geschah . . .« (78).
Gerade das Umgekehrte scheint mir den Tatsachen zu entsprechen: mit der Ent-
faltung des Selbstbewußtseins emanzipierte sich der Mensch von der Natur und
begann er den Weg der Kultur zu betreten.
 
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