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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 13.1919

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Fränkel, Jonas: Das Epos
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https://doi.org/10.11588/diglit.3622#0033
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28 JONAS FRÄNKEL.

Roman. Es entspringt einer durchaus anderen Einstellung zu Mensch
und Welt als der Roman. Wenn der Roman die Dinge der Welt in
ihrer Realität wiedergibt, so erhebt sich der Epiker über die Realität,
und die Gestalten, die er beschwört, gehören einer anderen Welt an als
der realen: einem selbsterschaffenen Kosmos, in dem der Dichter un-
beschränkte Herrschaft ausübt; das Epos ist üb er weltlich. Der Roman
ist Realität, nach bestimmten Kunstgesetzen zur Schau gestellt, das
Epos ist Dichtung, d. h. Symbol. Das Epos ist weder Gegenwart
noch Vergangenheit — also auch nicht Geschichte, wie der Wahn
der Humanisten gelehrt hat; es ist zeitlos. Nichts liegt dem Epiker
ferner als greifbare Abschilderung der Welt. Sein Kosmos wölbt sich
gleich einem sonnigen Frühlingshimmel über der Erde, sehnsucht-
weckend, unendliche Möglichkeiten in sich bergend. Das Epos ist
Licht, Gold und Glanz; allein dieser Glanz bildet nur gleichsam die
Vordergrundswelt, in die allbeherrschend, ehrfurchtgebietend der düstere
Schatten einer höheren Macht hereinragt. Das Epos leiht seine Farben
von der realen Welt, aber es schwebt über den Dingen, die es spie-
gelt, und weist über das Reale hinaus auf tiefere, wesentliche Zu-
sammenhänge. Das Epos ist ein Kosmos, der das Nächste und das
Fernste umspannt, den Schein und die Tiefe.

Dem Epos ist jede Gebundenheit, in welcher Form immer sie auf-
treten mag, fremd. Es ist weder national in unserem Sinne, noch
konfessionell (obschon tief religiös). Wenn der Roman sich mit einem
Ausschnitt aus der Welt begnügt, so gibt es für den epischen
Dichter schlechthin keine Grenzen, die er nicht überschreitet. Das
Epos ist ein Universum, außerhalb dessen kein Raum denkbar ist.

In diesem hohen Sinne faßte noch Herder das Epos auf, als er
in der >Adrasteac *) schrieb: »Das Feld der Epopee, wenn es dieses
Namens wert sein soll, fodert gleichsam die Mitwirkung der ganzen
Natur, die ganze Ansicht der Welt zwischen Himmel und Erde.«
Aber auch dem ganz anders gearteten Voltaire schwebte das gleiche
Ideal des Epos vor, als er, der zu klug war, um sich auf seine »Hen-
riade« viel einzubilden, in einer seiner erfrischenden Aufrichtigkeiten
erklärte, die Franzosen besäßen deswegen kein Epos, weil sie unter
allen europäischen Nationen die am wenigsten dichterisch begabte
wären und das Epos durch Kunst allein nicht zu zwingen sei2).

Diese strenge Geltung hat das Epos in der Poetik längst eingebüßt.
Schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde es theoretisch verneint.
Wohl wurde dabei der Name gerettet, doch für etwas von Grund aus

') X. Stück. Suphans Herder-Ausgabe Bd. 24, S. 281.

') S. Essai sur la poesie e'pique (Oeuvres completes, 1785, t. X, p. 414).
 
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