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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 13.1919

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Fränkel, Jonas: Das Epos
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https://doi.org/10.11588/diglit.3622#0060
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DAS EPOS. 55

auf, das jedes der vier »epischen Völker« des Erdballs (Inder, Perser,
Griechen und Germanen) aus sich hervorgebracht und das der aus-
erwählte Dichter zu erneuern habe, wenn die Zeiten erfüllet sind:
wenn das »epische Volk« im Begriffe steht, »eine führende Welt-
macht« zu werden und die »staatlichen Siege« zeitlich mit dem »Siege
einer neuen Religion« (es ist die Zeit der Büchner und Molesdiott!)
zusammentreffen, die nicht etwa der Dichter — bewahre! — aus
Eigenem beibringen darf; denn der Dichter soll ja nichts als ein
Werkzeug seines Volkes sein . .. Mit solchen Plattheiten hat dieser
»Rhapsode« das Unschöpferische seiner auf grobe Wirkungen einge-
stellten »Nibelunge« zu verdecken gesucht. Doch der beispiellose Er-
folg, den er sich beim deutschen Publico errang, trug nur dazu bei,
daß diejenigen, denen die Poesie eine heilige Sache war, sich fortan
von allem, was sich Epos nannte, mißtrauisch abwandten. Und was
die Scheffel, Schack, Hermann Lingg und Hamerling — der Schlimmeren
nicht zu gedenken — als sogenannte Epen ausgaben, war nicht ge-
eignet, das Vorurteil zu tilgen. Mochte auch in den achtziger Jahren
ein Überkühner unter den Berliner Naturalisten, Heinrich Hart, die Zeit
reif für ein neues Epos erklären — mit seinem im Schatten der »Le-
gende des siecles« Victor Hugos stehenden »Lied der Menschheit«,
wenn es vollendet worden wäre, hätte er nur die Überzahl jener ver-
mehrt, die im Laufe der Zeiten die Weltgeschichte zu poetisieren
unternahmen. Den Bann vermochte auch er nicht zu brechen.

Ein langer, weiter Weg! Ein Weg voller,Irrungen und Mißver-
ständnisse, voller Verdunklungen und seltener Lichtblitze. Ein jahr-
hundertelanges Suchen nach dem Epos, das niemand kannte, von dem
nur alle wußten, daß sein Gelingen den höchsten Preis des Dichters
bedeute. Als hätte einer in dunkler Nacht einen leuchtenden Stein
durch die Lüfte geschleudert und die Menschen machten sich auf, den
Stein zu finden. Wie ein unseliger Wahn könnte diese Jagd nach dem
Epos erscheinen, wüßte man nicht, welch unbezwingbare Magie immer
wieder von Homer ausging, so oft die Dichter den Weg zu ihm
fanden.

Doch wie zu allem Höchsten, so führt auch zum Epos der Weg
nicht durch noch so intensives Streben und Suchen, nicht durch
Theorie und nicht durch Nachahmung, sondern allein durch — Gnade.
 
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