Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 13.1919

DOI Artikel:
Wellesz, Egon: Der Beginn des Barock in der Musik
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3622#0062
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
DER BEGINN DES BAROCK IN DER MUSIK. 57

I.

Jede Abgrenzung einer Kunstperiode durch Jahreszahlen hat etwas
Willkürliches. Sie bedeutet ein Innehalten, einen Ruhepunkt dort, wo
alles ständig in Fluß, ständig in Bewegung ist. Und dennoch benötigt
man Grenzen, um sich innerhalb der unübersehbaren Mannigfaltigkeit
der Erscheinungen in der Geschichte der Künste zu orientieren, und
erhält dadurch zeitlich getrennte Abschnitte, Epochen der Kunst-
geschichte. Um sich nun über die einzelnen Epochen den Überblick
zu erleichtern, hat man sich daran gewöhnt, sie mit Namen zu
bezeichnen, welche sie in prägnanter Weise charakterisieren und um-
grenzen sollen.

Diese Namen hat man die längste Zeit hindurch kritiklos hinge-
nommen, obwohl sie keineswegs geeignet waren, den beabsichtigten
Zweck zu erfüllen. Denn sie sind nicht Resultate einer kritischen
Überlegung, sondern kamen zufallsweise auf und erhärteten dann zu
einem Symbol. Sie sind entweder gänzlich verfehlt, wie der Name
Gotik — im Sinne von barbarischer Kunst —, oder beziehen sich auf
eine Einzelbewegung — auf das Rinascimento der Antike — inner-
halb einer Mehrheit von Kulturbestrebungen, wie der Name Renais-
sance, oder bilden ein absprechendes Urteil, wie der Name Barock.
Als systematische Termini, mit denen sich aber zugleich ein Werturteil
verband, wurden diese Begriffe zuerst in der Romantik verwendet.
Will man in der modernen Forschung mit ihnen operieren, so darf
man sich ihrer nicht zur Erklärung, sondern bloß als konventioneller
Fiktionen zum Zwecke der Verständigung bedienen.

Da diese Bezeichnungen zu einer Zeit gegeben wurden, wo die
historische Forschung noch vorzüglich der Aufzeichnung des reinen
Geschehens zugewandt war, konnten sie einer Zeit nicht mehr genügen,
die in die historische Betrachtung den Gedanken einer steten Ent-
wicklung des kulturellen Geschehens eingeführt hatte.

Jetzt erst, nachdem man nicht mehr das einzelne Kunstwerk isoliert
betrachtete, sondern seine Stellung zu den umgebenden Werken unter-
suchte, seinen Vorgängern nachspürte, und die verbindenden Fäden
so weit verfolgte, bis alle Zusammenhänge klargelegt waren, wurde es
möglich, Werke vergangener Zeiten in richtiger Weise zu beurteilen.
Dabei stellte sich die Notwendigkeit heraus, die mit den Namen Gotik,
Renaissance, Barock und Rokoko verbundenen Vorstellungen einer
Revision zu unterziehen, da die zeitliche Abgrenzung der mit diesen
Namen verbundenen Epochen eine Verschiebung erfahren hatte.

Besonders klar tritt diese Modifikation bei den Begriffen Renaissance
und Barock hervor. Für das, was wir heute Kunst der Renaissance
 
Annotationen