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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 13.1919

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Cassirer, Ernst: Goethes Pandora
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https://doi.org/10.11588/diglit.3622#0119
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114 ERNST CASSIRER

in symbolischen Bildern zu zeigen, wie Wissenschaft und Kunst sich
dieser Welt zuerst mitgeteilt und aus ihren ersten Keimen entfaltet
haben, so läßt sich nicht leicht ein abstrakteres und somit undramati-
scheres Thema denken als dies. Und doch braucht man sich auf der
anderen Seite nur dem reinen und unbefangenen Eindruck des Werkes
selbst zu überlassen, um sich sogleich in eine völlig andere Sphäre
versetzt zu fühlen: in ein Gebiet, in welchem alle begriffliche Aus-
deutung des Einzelnen unzulänglich wird und nur noch das Ganze
der Dichtung als lyrisch-dramatisches Ganzes vernehmlich ist. Durch
die Gesamtheit der Dichtung wirkt eine einheitliche Grundstimmung,
wirkt der Ton jener Melodie, die am reinsten und stärksten in dem
leidenschaftlichen Ausbruch des Phileros, in Epimetheus' Hymnus auf
die Schönheit und in der Klage der Epimeleia erklingt. Hier muß
jeder Zweifel und alles theoretische Grübeln über den einheitlichen
»Sinn« des Gedichts aufhören; denn man fühlt sich unmittelbar auf
den Mittelpunkt von Goethes eigenster künstlerischer Gestaltungsweise
zurückgewiesen. Goethes Naturgefühl und sein individuelles Menschen-
und Lebensgefühl sprechen sich hier in einer Kraft und Tiefe aus,
die an die vollendetsten lyrischen Schöpfungen des alten Goethe —
an die Marienbader Elegie oder an das Diwan-Gedicht >Wiederfinden«
gemahnt. Will man freilich selbst diese eigentlichen lyrischen Höhe-
punkte der Pandora-Dichtung nur als »lyrische Einlagen in eine dra-
matische Allegorie« gelten lassen: will man in ihnen, wie es noch jüngst
ein so feiner Beurteiler wie Gundolf getan hat, nur gleichsam »Bra-
vourarien« sehen, die, wie in der alten Oper, aus dem Ganzen des
Werkes herausfallen, so löst sich damit die künstlerische Einheit des
Werkes auf; so muß man sich entschließen, in der Pandora nur noch
ein »Stück in Stücken« zu sehen. Es ist eine Auffassung, wie sie
Goethe selbst frühzeitig entgegengetreten ist und mit der er sich
resigniert abgefunden hat. Als Frau v. Stein Goethe eingestand, daß
sie nur einzelne Teile des Werkes sich wahrhaft anzueignen vermocht
habe, da erwidert er ihr, daß in der Tat das Ganze auf den Leser
nur gleichsam geheimnisvoll wirken könne. »Er fühlt diese Wirkung
im Ganzen, ohne sie deutlich aussprechen zu können; aber sein Be-
hagen und Mißbehagen, seine Teilnahme oder Abneigung entspringt
daher. Das Einzelne hingegen, was er sich auswählen mag, gehört
eigentlich sein und ist dasjenige, was ihm persönlich konveniert. Daher
der Künstler, dem freilich um die Form und den Sinn des
Ganzen zu tun sein muß, doch auch sehr zufrieden sein kann,
wenn die einzelnen Teile, auf die er eigentlich den Fleiß verwendet,
mit Bequemlichkeit und Vergnügen aufgenommen werden.«

Diesen Sinn des Ganzen, der Goethe als Künstler gegenwärtig
 
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