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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 13.1919

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Klopfer, Paul: Das räumliche Sehen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3622#0141
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136 PAUL KLOPFER.

wir dann erstaunt vor manchem Platze, mancher Straße halten, weil
wie ein Wunder sich ein Bild vor uns aufgetan hat, reich an Schön-
heiten, an denen aber tagsüber Hunderte und Tausende achtlos vor-
übergeeilt sind.

Ganz besonders gilt dieses Sehenlernen dem angehenden Archi-
tekten; der muß stündlich auf seinen Wegen durch die Stadt oder im
Dorfe mit den Augen »arbeiten«.

Das Sehen muß also gelernt werden. Was sehen heißt,
wird uns unschwer klar, wenn wir in einem Räume, sei es im Zimmer,
sei es auf der Straße, »die Blicke schweifen« lassen. Wir tasten
gleichsam an den Wänden des Raumes entlang, umfassen die Gegen-
stände darin, soweit sie uns optisch erreichbar — also sichtbar —
sind und schicken den Blick bald in die Nähe, bald in die Tiefe (in
den Hintergrund). Wir staunen, mit welcher Geschicklichkeit und mit
welcher Vehemenz unsere »Blicktaster« sich ausstrecken und einziehen
können, je nachdem das Objekt fern oder nah steht. Dieses Blicken
ist aber, besonders wenn es unbewußt geschieht und nicht mit Ab-
sicht auf ein vorher bestimmtes Objekt zielt, nicht ohne Ordnung und
ohne System: immer wird das Auge vom Vordergrund nach
dem Hintergrund, und nicht umgekehrt, sehen. Dabei gilt frei-
lich eine Voraussetzung: es darf dem Blicke auf seinem Wege nach
der Tiefe kein Objekt im Wege sein, das ihn hemmt und das Auge
zwingt, sich auf diese Hemmung einzustellen. In diesem Falle wird
der Raum dahinter zum Hintergrund. Fassen wir aber den Raum
als solchen, also lediglich als Hohlkörper, von Wänden, Fußboden
oder vielleicht von einer Decke begrenzt, dann gilt unser Satz vom
Wege des Blickes von vorn nach der Tiefe durchaus. Fast könnte
man versucht sein, an eine innere Verwandtschaft der Worte sehen
und gehen zu denken, denn gerade beim Sehen in den Raum hinein
kann uns das Wandern des Blickes an unser körperliches Wandern
erinnern. Genau so, wie wir selbst die Schritte vorwärts — und nur
im Spiel oder aus einem Sonderanlaß heraus rückwärts lenken, so
pflegen wir unbewußt auch unseren Blick von der Nähe in die Tiefe
zu schicken, eine Gasse hinunter-, einen Berg hinaufzusehen1).

Das Sehen ist also ein tastendes Wandern mit den
Augen, eine Arbeit, die, je nachdem der Blick auf mehr oder weniger
Hemmungen stößt, glatt oder schwierig vor sich geht, und die bei
großen Hemmungen (wie wir sahen) sogar aufgehalten werden kann.

') Das treffliche Seume-Wort, es würde manches besser gehen, wenn wir mehr
gehen würden, kann sich so variieren in das gleich wertvolle »manches würde
besser aussehen, wenn wir mehr sehen würden«.
 
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