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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 13.1919

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Klopfer, Paul: Das räumliche Sehen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3622#0153
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148 PAUL KLOPFER.

und Türöffnungen weg, so würde der Blick ungehindert, aber auch
uninteressiert nach dem Hintergrunde auf sein Ziel zulaufen. Ku-
lissen und Rahmen sind also Verzögerungsfaktoren des
in die Tiefe strebenden Blickes. Zugleich sind sie aber auch
Isolatoren gegen den Außenraum, da, wo wir diesen mit in Betracht
ziehen müssen. So isolieren die herrlichen romanischen und gotischen
Kirchenportale den Eingang von der Kirchenfront, so isoliert auch ein
Ooldrahmen das Bild von der umgebenden Tapete. Beide Faktoren
aber bewirken durch die Reihen, aus denen sie sich zusammensetzen
(das mittelalterliche Portal durch den umlaufenden Wechsel der Profi-
lierungen), daß unser Blick tatsächlich auch gereizt und gespannt wird
auf das endliche »Thema«, das Ruhebild — in einem Falle auf den
Blick auf die Kirchentür und in den Kirchenraum, im anderen auf den
Blick in das Gemälde.

In der Baukunst wird die Spannung des Blickes freilich nicht
immer belohnt und der Blick oft nicht entspannt. Besonders die
Architektur des ausgehenden IQ. Jahrhunderts hat sich bei ihrem Bau-
schaffen um Raumweite größerer Art, wie um Straße und Platz, leider
nicht gekümmert. Straßen, die endlos geradeaus gehen und auf kein
Ziel laufen, Plätze, die das Auge an den Wänden entlang führen, ohne
daß es irgendwo Ruhe finden kann, sind typisch für jene Bauperiode.
Die große Treppe in Lüttich, die aufwärts zwischen Häuserwänden
in die Luft führt, gehört mit in diese Klasse.

Dabei ist die Schaffung eines Ruhebildes überhaupt gar nicht
nötig. Im Gegenteil: viel reizvoller wirkt das Bild, dessen Wände
zunächst den Blick vorwärts führen, dann ihn aber durch eine leichte
Verbrechung weiterleiten. In diesem Weiterleiten des Tastblickes,
ohne daß er an das Ruhebild kommt, liegt der Hauptkern der Poesie
der alten Gassen und Winkel deutscher Städte, die den Wanderer,
anstatt ihn vor einem Bilde nach italienischer Renaissancearbeit er-
staunt halt machen zu lassen, immer weiter führen, von einer Krüm-
mung zur anderen, immer wieder seine Neugierde weckend und
stachelnd auf das, was nachher kommt1). In solchem baukünstlerischen
Tun offenbaren sich besonders stark die Gegensätze zwischen dem,
was wir romantisch und dem, was wir klassisch nennen: hier, wie
beim St. Petersplatze: Aufdecken aller Karten, gewaltigste optische
Steigerung mit Hilfe von Terrassen, Kolonnaden und hochtheatrali-
schem Aufbau, vorwiegend Beobachtung des Horizontalismus; —
dort, wie in der mittelalterlichen gewachsenen deutschen Stadt: Aus-

') Der eingangs aufgestellte Satz, daß der Blick >wie der Wanderer das Ziel
will«, bleibt dabei bestehen — aber der Blick wird eben hier lange hingehalten,
seine Neugier geweckt.
 
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