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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 13.1919

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Schmidt, Paul Ferdinand: Klassizismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.3622#0156
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KLASSIZISMUS. 151

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Die Renaissance ruhte nicht nur in erster Linie auf der Natur und
bediente sich der Antike gewissermaßen nur als Formenkorrektur,
sondern sie entsprang dem Kunstwollen eines Volkes und einer Zeit,
die gleiche Gesinnung und gleiche Instinkte hatten wie die Griechen.
So, wie sich die Hellenen selbständig, kraft angeborener Gaben, aus
den abstrakten, vom Orient mitgebrachten Formeln der Anschauung los-
machten und mit Entdeckerglück die organische Schönheit der Welt
in Kunst übersetzten: so selbständig hatten sich die Italiener von
Masolino bis Raffael aus der transzendentalen Anschauung des Mittel-
alters befreit und in die Welt »eingefühlt«. Ihre Vorstellung von
künstlerischer Form war gleichbedeutend mit Schönheit geworden, wie
es die der Griechen gewesen war. Nicht durch Nachahmen klassischer
Überreste eigneten sie sich dieses Verständnis der Schönheit des
Organischen an, sondern es erwuchs in ihnen das lebenbejahende
Bild der Welt, und sie erkannten das Gleichgerichtete in den Resten der
Antike. Ihr Verhältnis zur Kunst der Alten war das des gleichstehen-
den Mitschülers (der Natur), nicht etwa das des Schülers zum Lehrer,
wie der Begriff »Rinascimento« und das leichtherzige Kopieren klas-
sischer Formbrocken im 15. Jahrhundert glauben machen könnten.
Allerdings lernten sie in Theorie und Praxis von den Alten, aber so,
wie der erwachsene Mann von seinem Vorläufer lernt, und mit dem
Respekt des Genies vor seinesgleichen. Sie standen den Alten jeder-
zeit souverän gegenüber und faßten sie auf und benutzten sie so, wie
es ihr seelischer Zustand gebot: zu Raffaels Zeiten maßvoll-klassisch,
zuzeiten der Carracci und Bernini bewegt, leidenschaftlich barock: denn
freilich konnten sie in den Antiken zu allen Stufen ihrer Entwicklung
Parallelerscheinungen erblicken.

Diese Freiheit gegenüber der Tradition hatten Deutsche und Fran-
zosen nicht. Beide waren mittelalterliche Menschen, mit gotisch ge-
bundenen Seelen; nicht in gleichem Grade, aber prinzipiell den Süd-
ländern gegenüber. Ja die Franzosen hatten zeitweise einen Vorsprung
vor den Deutschen gehabt im Punkte des transzendentalen Fanatismus;
aus einer unerhörten Anspannung des Abstraktionsgefühls, mit reli-
giöser Inbrunst gepaart, entsprang das Wunder der Gotik in der Isle
de France. Eine solche Seelenverfassung war nicht geeignet, die Antike
auch nur zu verstehen. Man fühlt es beim Anblick eines gotischen
Bildwerkes, daß die Weltbejahung der Griechen in Gehirnen, die solches
schufen, keinen Platz finden konnte. Nie wären Franzosen und Deutsche
von sich aus auf eine Darstellungsart verfallen, die etwas mit der
Antike gemein hat.

Nun schwand bei den Franzosen in dem Maße, als das Volk zur
politischen Einheit reifte, der Gegensatz von Nord und Süd, und es
 
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