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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 13.1919

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Ulrich, Robert: Über Vergleichbarkeit künstlerischer Richtungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3622#0205
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200 BEMERKUNGEN.

tausend Gestalten seinen Angreifern entwand. Und es wird wohl nie ein Menelaus
erscheinen, der diesen Dämon bezwingt. Denn je mehr ein Kunstwerk die Gipfel
menschlicher Gestaltungskraft erreicht, umso höher wächst es über alle Vergleich-
barkeit hinaus in eine nur ihm eigene Sphäre.

Deshalb ist alle große Kunst auch nicht mehr mit irgendeiner literarischen
Strömung oder Kunstrichtung zu charakterisieren. Sie geht darüber hinaus in das
Gebiet des schlechthin Gültigen, lebt, einmal entstanden, ein Leben für sich. Dabei
ist natürlich auch sie aus dem drangvollen Erlebnis ihrer Zeit entstanden, ist nichts
anderes als deren innigste Selbstgestaltung, ja gerade das flammende Pathos der
Einseitigkeit kann ihr ewiges Leben eingehaucht haben. Denn der Anspruch auf Zeit-
losigkeit, den jedes Kunstwerk in sich trägt, darf nicht mit der Stellung des Künst-
lers zum Leben verwechselt werden. So hat auch der Begriff der Tendenz, wie er
von allen möglichen Ästheten und Ästhetikern angewandt wird, oftmals etwas Ver-
ständnisloses und Greisenhaftes an sich. Es hat uns lange Jahre das Verständnis
für patriotische Lyrik und für die Dichtung um 1840 verdorben.

Aber starkes Zeiterleben ist eben noch lange nicht identisch mit dem Anschluß
an eine Kunstrichtung oder literarische Strömung. Da finden wir im Gegenteil,
daß sich der größere Künstler bald von dem Modischen zurückzieht und seine
eigenen Wege geht. Eine der Eigenarten des Genies, in seiner wesenhaften
Unterschiedlichkeit vom Talent, liegt gerade darin, daß es, über die Relativität und
Beschränktheit der Kunstrichtungen hinauswachsend, bald einsam wird, bis es, viel-
leicht erst nach Jahrzehnten, reproduktiven Geistern — durch nichts als sein ziel-
sicheres Schaffen — seinen Willen aufgenötigt hat. Das Talent dagegen bleibt in
der Mitte des Weges stehen — und da es niemals restlos eine Zeit durchgelebt
hat, vermag es sich den verschiedensten auf- und untertauchenden Moden anzu-
schließen, bis es schließlich mit der wachsenden Distanz des Lesers immer kleiner
wird und schließlich nur noch literarhistorische Teilnahme erweckt. Bei ihm ist
die Außenwelt jedesmal stärker als die Innerlichkeit — das Genie dagegen ist die
organische Synthese von beidem. Die literarische Strömung ist ihm vielleicht in
seiner Jugend, wo es sich noch nicht ausgewachsen hat, willkommen, oder auch
umgedreht: die literarischen Strömungen sind dem Genie willkommen, solange sie
selbst noch jung sind. Denn in der Frische ihres Entstehens sind sie Erweite-
rungen des Schaffens, neue Einblicke in seine Vielseitigkeit, überraschende An-
schauungsweisen des lv xal icäv der Kunst, sie lehren den Produktiven wagen, den
Kritiker erkennen und verstehen, sie sind Lockerer und Pflüger des Seelenlebens
der Menschheit.

Sind sie aber von den breiteren Schichten anerkannt, so haben sie ihre ge-
schichtliche Mission meist schon erfüllt. Sie werden dann leicht zu einem verderb-
lichen Evangelium eingerosteter oder sekundärer Geister, bis sie schließlich nur
noch das Hemmnis bilden, an dem eine neue Zeit ihre Kräfte erproben soll.
 
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