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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 13.1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.3622#0207
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202 BESPRECHUNGEN.

schwindet; daher auch die folgenschwere Betonung der Handlung und ihrer Kom-
position, die auf Jahrhunderte hinaus der allzu gelehrigen Menschheit den Blick für
das Recht und den besonderen Stil des Seelendramas genommen hat'), daher seine
ungenügende, wenn auch für ihre Zeit erstaunliche Erklärung des tragischen Er-
lebens durch Furcht und Mitleid, daher seine oft äußerliche Art, die Wirkung der
Tragödie nach der Kraft und Durchbildung einzelner Züge gleichsam im voraus zu
berechnen; daher aber auf der anderen Seite auch seine kühle Gegenständlichkeit,
seine überlegene Abweisung moralisierender und sonstiger kunstfremder Maßstäbe,
die ihn denn freilich zu jener knappen Andeutung der zudem stark überschätzten
kathartischen Wirkung des Dramas verführte und damit sein Büchlein auf unabseh-
bare Zeit um die rechte Wirkung bringen sollte. Denn indem man dem in dieser
Knappheit unverständlichen, medizinischen Fachausdruck, der an sich von einer be-
ängstigenden Unbestimmtheit ist, alle möglichen und unmöglichen Bedeutungen
beilegte, kam man von der rein ästhetischen Betrachtungsweise im ganzen ab,
die Aristoteles nur sozusagen auf einen Seitensprung verlassen hatte; und darüber
brachte man sich meist um das Beste, was der griechische Denker (nach Gomper-
zens ansprechender Vermutung aus seinem Umgang mit dem Dramatiker Theodektes
heraus) zu geben hatte: um jenen erstaunlichen Reichtum von »Atelierweisheit«,
der da vor uns ausgebreitet liegt und der freilich gerade am meisten der feinsinnigsten,
verständnisvollsten philologischen Deutung bedarf, um auch noch für die Gegenwart
fruchtbar gemacht zu werden. Das um so mehr, als wohl heut niemand mehr auf
die »Poetik« als auf ein Gesetzbuch der dramatischen Dichtung schwören wird.
Aber Gegenwartswerte der Vergangenheit, die wirklich aus der Tiefe geschöpft
waren, behalten ihr Gewicht weit über ihre Zeit hinaus.

Um diese überzeitlichen Werte hat sich nun freilich J. Vahlen wenig gekümmert;
ihm ist es nur darum zu tun, die augenblickliche Meinung des Aristoteles gegen
jeden Zweifel sicherzustellen; und hier steht ihm der höchste Ruhmestitel zu,
der einem Philologen verliehen werden kann; er ist ein wahrhaft kongenialer Er-
klärer des Textes. Ein ganzes Menschenleben, ein Gelehrtenleben von eigener,
herber Schönheit und von strengster, im kleinsten Punkt gesammelter Denkkraft hat
Vahlen an das Büchlein von der] Dichtung gewendet — auch darin dem Aristoteles
verwandt, daß er als vorwiegender Verstandesmensch an seinen Gegenstand heran-
trat, daß er es nicht wagte, einen Schriftsteller aus der Tiefe des innigsten Mit-
erlebens heraus nachschaffend zu verstehen, sondern sich an das Beweisbare hielt.
Sein Ziel ist die Kritik, seine Waffen sind die Grammatik und die formale Logik.
Was sich mit diesen Mitteln hat erreichen lassen, das hat Vahlen in einer fast
vollendeten Weise geleistet. Er hat damit eine Grundlage für jede mehr ästhetisch-
kritische Behandlung des Aristoteles gelegt, wie sie J. Bernays, Finsler und Th. Gom-
perz, Morgoliouth, Butcher und Bywater2) weiterhin in die Wege geleitet haben.
Durch Vahlens treffliche, mit sorgfältigem kritischem Apparat, knappen sachlichen
Parallelen und einem weit ausladenden grammatischen Anhang ausgestattete Aus-
gabe 3), und durch seine zahlreichen Erläuterungsschriften sind wir in die Lage ver-
setzt, uns zunächst einmal gründlich darüber zu unterrichten, was Aristoteles ver-

') Vgl. Joh. Volkelt, Ästhetik des Tragischen, 3. Aufl. München, C. H. Beck,
S. 93 ff. Ebenda zum Folgenden: S. 305, 316 ff. Ich verweise auch auf meine
Kritik in dieser Zeitschrift, Bd. IX, S. 220 ff.

2) Vgl. die Literaturangaben Bd. IX, S. 221 dieser Zeitschrift.

3) Aristotelis de arte poetica über tertiis curis recognovit et adnotatione critica
auxitjoh. Vahlen. Lipsiae, apud S. Hirzelium, MDCCCLXXXV.
 
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