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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 13.1919

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Schmarsow, August: Kunstwissenschaft und Kunstphilosophie mit gemeinsamen Grundbegriffen, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3622#0263
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258 AUGUST SCHMARSOW.

Stimmung mit sich selber schafft, gewinnt notwendig eine Macht-
vollkommenheit, die sich bis zu einem gewissen Grade steigern muß
und auf ihre Nachbarinnen weiterwirkt. Aber die Fortdauer dieser
Wirkung bedarf des Ersatzes verbrauchter Energie; weil keine Kraft
eines lebendigen Organismus unerschöpflich aus ihm selber quillt und
deren stetige Erneuerung am Ende verringert und versagt, verschiebt
sich allmählich auch die Überlegenheit von einer Quelle der Energie
zur andern, von einem Pol der Spannung auf ihren Gegenpol hin-
über. Und dieser Möglichkeiten des Übergangs von einer Kernzelle
zur andern gibt es mehrere: entweder in leisem, fast unmerkbarem
Wandel unter den nächstverwandten Nachbarinnen, weiter in der Reihe,
oder aber im schnelleren Wechsel, im schrofferen Widerstreit zwischen
zwei einander entgegengesetzten, aber einander ergänzenden und ein-
ander ablösenden Antipoden, deren innerste Natur ich nicht einfacher
und zutreffender zugleich zu bezeichnen wüßte, als mit der Natur der
Farben, die der Physiker »komplementäre« nennt. Mögen wir den
Idealtypus einer Kunst nun mehr im Sinne eines Biologen als psycho-
physisches Lebewesen, oder mehr im Sinne eines Kulturforschers als
»historisches Individuum« vorstellen, unser Kausalitätsbedürfnis läuft
doch immer, im ersteren Falle vielleicht gar mehr auf eine dynamisti-
sche, im zweiten dagegen auf eine personalistische Auslegung der
Ursächlichkeit hinaus. Die Hauptsache bleibt für uns, daß wir auf
diesem Wege der Zusammenfassung je zweier einander ergänzender
Künste, die gemeinsam an einer einheitlichen Ausdrucksgestaltung der
zeitweiligen Weltansicht arbeiten, als bestimmendes Paar, — zu einer
außerordentlich lehrreichen und fruchtbaren Reihe von höheren Ideal-
typen oder Kunstcharakteren ganz verschiedener »Kulturen« gelangen,
denen in der geschichtlichen Entwicklung nachweisbar wirkliche »histo-
rische und gegenwärtige Individuen« nach dem Sinne des Soziologen
oder des Kulturphilosophen entsprechen. Das sind die letzten Grund-
begriffe, die nach meiner Überzeugung die Kunstwissenschaft schon
jetzt zu bieten vermag. Sie könnten der Kulturphilosophie meines
Erachtens schon besser zugute kommen, als dies neuerdings in dem
Buche von Mehlis noch geschehen ist, der diese ganzen Bestrebungen
der Kunsthistoriker nicht kennt oder nicht so beachtet, wie es ihr
Recht wäre. _________

Durch ein Versehen ist die Anmerkung zu S. 167 weggeblieben:

Hält man sich genau an Ribots Unterscheidung der beiden Arten von »Imagination creatrice* und
versucht doch an beiden Polen eine Kraft vorzustellen, aus der die schöpferische Tätigkeit hier wie dort
entspringen könnte, so sieht man sich an einem gewissen Punkt vor die Frage gestellt, ob dem ganzen
Unterschied denn noch etwas Anderes zugrunde liege, als die raumkörperliche Anschauung auf der
einen, die zeitliche auf der anderen Seite, oder simultane und sukzessive Auffassung, das Festhalten
eines beharrenden Komplexes dort, das Verfolgen einer fließenden Bewegung hier. Dann ergebe sich
aber die Notwendigkeit einer dritten Art, in der sich unsere beiden Anschauungsformen verquicken, wie
Raum und Zeit in unserer Welt.
 
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