264 BERNHARD SCHWEITZER.
den Sinn der Wirklichkeit nachzubuchstabieren sucht, das Schein und
Sein noch identifiziert, am angemessensten.
Stellen wir neben diese transzendental-philosophische Betrachtungs-
weise die Entwicklung der antiken Kunst, wie sie sich tatsächlich in
dem Zeitraum, den wir bis jetzt überblicken, uns darstellt, so ergibt sich
eine so enge Übereinstimmung, wie sie bei der Mannigfaltigkeit der sie
hemmenden oder fördernden allgemeingeschichtlichen Einflüsse über-
haupt möglich ist. Die Richtung, in der sich das formale Denken der
Ägypter bewegt, zeigt sich deutlich in dem Wald von Statuen, den sie sich
seit den ältesten Zeiten geschaffen haben, und den Pyramiden, trotzigen,
in das Universum gestellten Denkmälern pharaonischen Machtbewußt-
seins. Aber auch wo sie ihre bewegliche Phantasie zu breiten Schilde-
rungen des wirklichen Lebens im Flachrelief treibt, herrscht nichts-
destoweniger das plastische Prinzip der Isolierung. Sogar die Teil-
formen des menschlichen Körpers werden ohne Rücksicht auf ihr
Zusammenwirken zur Verdeutlichung eines lebensfähigen Individuums
stets jede für sich in der für sie eindeutigsten, plastisch unmittelbar
verständlichsten Ansicht dargestellt: der Kopf und die Beine im Profil,
der Oberkörper in Vorderansicht. Jeder der dargestellten Gegenstände
führt sein Eigenleben1), die Beziehungen der Objekte untereinander
erschöpfen sich in ihrem pragmatischen Zusammenhang2), nirgends
zeigt sich eine formale Bindung. Bis in die jüngsten Zeiten der
ägyptischen Kunst fehlt die streng symmetrische Gruppe. Wenige
Ausnahmen sind nicht geeignet, das Bild zu verändern, und lassen
sich auf Beeinflussung von außen zurückführen. Der Grund hat im
ägyptischen Relief nur die materielle Bedeutung, die einzelnen »plasti-
schen« Sondfergebilde zu tragen, er hat in dem künstlerischen Vor-
stellungsprozeß keine Funktion, ihm fehlt jede raumbildende Fähig-
keit. Noch für die jüngere Zeit des Neuen Reichs ist die Fassade
des Felsentempels von Abusimbel mit ihrer einfachen Nebeneinander-
setzung der Statuenkolosse ein eindrucksvolles Beispiel dieser rein
»plastischen« Sinnesart.
In vollkommenem Gegensatz hierzu steht die älteste Kunst des
Zweistromlandes und der angrenzenden Gebiete des iranischen Hoch-
landes, Armeniens, Kappadokiens und Syriens. Dort sind wir schon
lange gewohnt, die Heimat der heraldischen Gruppe zu suchen. Die
ältesten in Susa und Babylonien gefundenen und vielleicht noch ins
') Vgl. Riegl a. a. O. S. 53: »Die Ägypter sind trotz einzelner Anläufe .. . über
die wechselseitige Isolierung der Figuren nicht hinausgelangt.«
2) L. Curtius betont in seiner Antiken Kunst (Handbuch der Kunstgeschichte,
herausgeg. von Burger-Brinckmann) S. 107 ff. den »Rationalismus« und die »Sachlich-
keit« der ägyptischen Kunst.
den Sinn der Wirklichkeit nachzubuchstabieren sucht, das Schein und
Sein noch identifiziert, am angemessensten.
Stellen wir neben diese transzendental-philosophische Betrachtungs-
weise die Entwicklung der antiken Kunst, wie sie sich tatsächlich in
dem Zeitraum, den wir bis jetzt überblicken, uns darstellt, so ergibt sich
eine so enge Übereinstimmung, wie sie bei der Mannigfaltigkeit der sie
hemmenden oder fördernden allgemeingeschichtlichen Einflüsse über-
haupt möglich ist. Die Richtung, in der sich das formale Denken der
Ägypter bewegt, zeigt sich deutlich in dem Wald von Statuen, den sie sich
seit den ältesten Zeiten geschaffen haben, und den Pyramiden, trotzigen,
in das Universum gestellten Denkmälern pharaonischen Machtbewußt-
seins. Aber auch wo sie ihre bewegliche Phantasie zu breiten Schilde-
rungen des wirklichen Lebens im Flachrelief treibt, herrscht nichts-
destoweniger das plastische Prinzip der Isolierung. Sogar die Teil-
formen des menschlichen Körpers werden ohne Rücksicht auf ihr
Zusammenwirken zur Verdeutlichung eines lebensfähigen Individuums
stets jede für sich in der für sie eindeutigsten, plastisch unmittelbar
verständlichsten Ansicht dargestellt: der Kopf und die Beine im Profil,
der Oberkörper in Vorderansicht. Jeder der dargestellten Gegenstände
führt sein Eigenleben1), die Beziehungen der Objekte untereinander
erschöpfen sich in ihrem pragmatischen Zusammenhang2), nirgends
zeigt sich eine formale Bindung. Bis in die jüngsten Zeiten der
ägyptischen Kunst fehlt die streng symmetrische Gruppe. Wenige
Ausnahmen sind nicht geeignet, das Bild zu verändern, und lassen
sich auf Beeinflussung von außen zurückführen. Der Grund hat im
ägyptischen Relief nur die materielle Bedeutung, die einzelnen »plasti-
schen« Sondfergebilde zu tragen, er hat in dem künstlerischen Vor-
stellungsprozeß keine Funktion, ihm fehlt jede raumbildende Fähig-
keit. Noch für die jüngere Zeit des Neuen Reichs ist die Fassade
des Felsentempels von Abusimbel mit ihrer einfachen Nebeneinander-
setzung der Statuenkolosse ein eindrucksvolles Beispiel dieser rein
»plastischen« Sinnesart.
In vollkommenem Gegensatz hierzu steht die älteste Kunst des
Zweistromlandes und der angrenzenden Gebiete des iranischen Hoch-
landes, Armeniens, Kappadokiens und Syriens. Dort sind wir schon
lange gewohnt, die Heimat der heraldischen Gruppe zu suchen. Die
ältesten in Susa und Babylonien gefundenen und vielleicht noch ins
') Vgl. Riegl a. a. O. S. 53: »Die Ägypter sind trotz einzelner Anläufe .. . über
die wechselseitige Isolierung der Figuren nicht hinausgelangt.«
2) L. Curtius betont in seiner Antiken Kunst (Handbuch der Kunstgeschichte,
herausgeg. von Burger-Brinckmann) S. 107 ff. den »Rationalismus« und die »Sachlich-
keit« der ägyptischen Kunst.