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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 13.1919

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Braun, Otto: Studien zum Expressionismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.3622#0289
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284 OTTO BRAUN.

nun diese Umgestaltung eine schöpferisch-allgemeingültige, so könnte
man diese Schilderungsart etwa mit dem kantischen Kritizismus ver-
gleichen. Aber der neue Künstler will auf das Nur-Individuelle hinaus,
auf die nur subjektiven Wahrheiten — denn die andern Wahrheiten
sind Vordergrundsansichten der Praxis. »Was soll das heißen: Wirk-
lichkeit?«, läßt H. Mann Flaubert sprechen 1). »Die einen sehen schwarz,
andere blau, die Menge sieht dumm.« Es gibt eben nichts Sachlich-
Objektives, Bleibend-Gültiges — damit verschwistert sich der künst-
lerische Psychismus mit dem philosophischen Positivismus, Relativis-
mus, Psychologismus. Und darum ist diese Kunst nicht dem kantischen
Denken verwandt, wo das schöpferische Ich das transzendentale, all-
gemeingültig-setzende ist. Subjektive Psyche des Individuums wird
hier mit »reiner Vernunft«, mit gültigem Geist verwechselt — das
zeigt sich schon in der Form der Wirklichkeitsschilderung, die eben
nicht auf das Sachliche, allgemein Anzuerkennende geht, sondern ge-
rade das Subjektive, das Entlegene, das Ausgefallene erstrebt — und
darum schildern die jungen Künstler auch mit absonderlichen Mitteln,
in stark eigenwilliger Sprache. »In der Prosa dieser Erzähler wird
das Dickklebrige, Chaotische der Realität durch den Filter des Geistes
ausgeschieden«, urteilt Pinthus2). Diese »Vergeistigung», die eben
nur eine Psychisierung ist — und ^o/tj und voö? sind zu schei-
den! — zeigt sich in der schroffen Ablehnung der schlichten Sach-
lichkeit aller Schilderung als philiströse Plattheit. Das ist gegen jeden
Naturalismus in der Kunst gerichtet, und viel Wahres liegt darin, in-
sofern es wirklich nichts Sinnloseres geben kann, als die Kunst zu
dem Versuch zu erniedrigen/die Wirklichkeit nur abzuschreiben, wie
ein photographischer Apparat. Nun bleiben aber die Expressionisten
längst nicht bei der selbstverständlichen Ablehnung der naturalistischen
Kunst stehen — sie gehen weit darüber hinaus. Ihnen ist schon
Ordnung, Ausgeglichenheit, strenge Gestaltung vielfach verdächtig,
und sie gelangen schließlich zum Chaos mit ihrer »übernatürlichen«,
»mystischen«, »ideenschildernden« Kunst. »Besser Überschwang als
Geschmack, besser die Wüste als ein Trottoir, besser ein Wilder als
ein Friseur« (worin ja sicher auch Wahres steckt!), so redet Flaubert
nach H. Mann. Das berechtigte Streben, das Allzuglatte los zu wer-
den, verführt aber zur Umgestaltung: schließlich endet der Stil im
unartikulierten Schrei, bestenfalls im artikulierten. Was darin der
Almanach der neuen Jugend und die Aktion leisten, ist bekannt. Die
gestaltenden Expressionisten, die ihrem »Ausdruck« Form geben,

') Der neue Roman, Ein Almanach. K. Wolff 1917.
2) Vom jüngsten Tag. K. Wolff 1917.
 
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