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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 13.1919

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Görland, Albert: Die dramatischen Stilgegensätze bei Grillparzer und Hebbel
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Eisler, Max: Die Sprache der Kunstwissenschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.3622#0321
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316 BEMERKUNGEN.

Bedeutungen vorläufig nicht in Betracht, sondern nur das Qrenzverhältnis der Be-
deutungen von Gestalt zu ihnen.

Und da ist es zunächst am merkwürdigsten, daß das Wort Gestalt niemals für
»Gegenstand« gesetzt wird, daß also wenigstens von ihm aus der heute fast
allgemeinen Verwendung der letzteren Sprachform für das greif- und sichtbar Ge-
gebene kein Vorschub geleistet wird. Den Gegensatz zu »Material«, Materie, Stoff
betonen die beiden untereinander bezüglichen Stellen bei Goethe: »Euch wird aber
der Stein, der durch die Kunst zur schönen Gestalt gebracht worden, alsobald schön
erscheinen.« »Die Materie aber hatte eine solche Gestalt nicht« (49, 105). Und
ebendort hebt sich die »Form« durch die Wendung »die Form, in die Materie her-
vorschreitend« schon im Worte vom Material ebenso deutlich ab wie von der Gestalt
durch die steigernde Bezeichnung als »schöne Gestalt«; aber noch schärfer als durch
das Wort wird die selbständige Zwischenstellung des Gestaltbegriffes zwischen
Materie und Form durch jene Satzfolge festgestellt, die auf die Naturnachahmung,
also auf ein Gebiet der Gestalt, Bezug nimmt: »Wollte aber jemand die Künste
verachten, weil sie der Natur nachahmen, so läßt sich darauf antworten, daß ...
die Künste nicht das geradezu nachahmen, was man mit Augen siehet, sondern auf
jenes Vernünftige zurückgehen, aus welchem die Natur bestehet und wornach sie
handelt« (49, 106) — womit, wenigstens für die naturnachahmenden Künste, klar
ausgedrückt ist, wo die Geltung der Gestalt aufhört, die der Form beginnt. Für
die Absonderung des Gestaltsbegriffes von jenem des Inhalts im Kunstwerk ist aber
endlich durch die ältere Sprachübung das Beste vorgearbeitet, indem die Wortform
Gestalt alle objektiven Ausdruckswerte für sich in Anspruch nimmt, die subjektiven
hingegen anderen Benennungen, darunter auch dem »Inhalt«, überläßt.

Damit trifft also für den einen herangezogenen Wortfall zu, daß er an näheren
und ferneren Bedeutungen schon im älteren, gewählten deutschen Sprachgebrauch
das bezeichnet, was er kunstwissenschaftlich bezeichnen will, und daß er schon dort
gegenüber den Eingriffen der übrigen Wörter des Systems genügend abgegrenzt
und geschützt ist. Wiederholt sich dieser Tatbestand auch bei den übrigen fünf
Wörtern, die durch ähnliche Sprachuntersuchungen wieder gesättigt werden müßten,
dann ist mit Strzygowskis System ein wichtiger Schritt mehr auf dem Wege zur
Begründung einer selbständigen Kunstwissenschaft geschehen, die sich nicht durch
das längst ausgebildete Requisit der Fachausdrücke1), sondern nur durch Statuie-'
rungen ihrer Begriffe in ihren Wortformen begründen kann. Ob sie dabei eine
reproduktive oder aber eine rezeptive Stellung zu dem Kunstobjekte einnimmt, ist
eine Frage ihrer näheren wissenschaftlichen Richtung, die das Wortproblem als
solches unberührt läßt.

Die eigene Sprachbildung ist für die junge Kunstwissenschaft zu einer Forderung
von allergrößtem, grundlegendem Gewichte geworden. Ihr Sein oder Nichtsein und
jedes Maß ihrer Entwicklung hängen davon ab, der Augenblick ist entscheidend.
Sprachbildung setzt aber Sprachkunde und diese wieder Sprachforschung voraus.
Nachdem man alle übrigen Hilfswissenschaften für die Vorbereitung ausgiebig
herangezogen, wird man zuletzt diese, die doch jeder durchs Wort darstellenden
Forschung am nächsten liegt, mit ganzen, gesammelten Kräften pflegen müssen.

') Der Wert dieses Apparates von Sachwörtern, die wohl Terminen, aber noch
keine Terminologie (Logos im Sinne des energetischen Begriffes und seiner Ver-
bindung zur Definition) enthalten und vom Laien irrtümlich als Sprachbegriff der
Wissenschaft angesehen werden, wird nicht verkannt. Aber sie sind nicht mehr als
Bausteine ohne Bauform, Stoffstücke ohne Kitt und ohne Struktur.
 
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