372 HANS HENNING.
Gedächtnis- und Denkpsychologie hinein —, namentlich wer das Denken
neuer Vorstellungen erklären wollte, der stieß zunächst auf große
Schwierigkeiten. Die klassische Assoziationslehre macht es wohl be-
greiflich, daß eine Vorstellung in uns auftaucht, welcher eine frühere
Wahrnehmung entspricht, daß wir uns etwa beim Hören des Wortes
Venedig einiger dort erlebter Szenen erinnern; wie sollte aber ein
gänzlich neues Bild nur durch das assoziative Band zweier alter Er-
fahrungen bedingt sein? Eine größere Anzahl von Autoren — und
zwar Ach, Külpe, Watt, Dürr, Bühler, Messer, Wreschner, Moskiewicz,
Koffka, Grünbaum, Specht, in modifizierter Weise Müller-Freienfels
und andere — glaubten denn auch, hier versage die Assoziationslehre,
ja hier erweise sich ihre Unrichtigkeit, und so nahmen sie eine »de-
terminierende Tendenz« an, welche kräftiger als die Assoziationen
unserem Vorstellungsverlauf die typische Richtung gäbe. Indessen
konnte G. E. Müller diese Hypothese als unwissenschaftlich zurück-
weisen und alle gemeldeten Befunde ohne mysteriöse Kräfte exakter
mit der Assoziationslehre erklären. Diese steht darum heute fester da
als je.
In einer experimentellen Untersuchung ) prüfte ich nun, wie das
Vorstellen von noch nie Wahrgenommenem eigentlich abläuft, was auch
die bei der Lektüre auftauchenden Bilder einbezieht. Der Mechanis-
mus war mit neuen Methoden zu fassen, und dabei zeigten sich zwölf
psychologische Gesetze über die Grenzen, Fesselungen und Gebunden-
heiten, welche unsere Phantasie einengen. Alle diese Grenzen lassen
sich mit Kunstgriffen, die bei großen Dichtern und Darstellern be-
sonders vorgebildet sind, je nachdem unmittelbar übersteigen oder doch
auf Seitenpfaden umgehen; manche Menschen freilich stoßen sich immer
wieder an solchen Grenzen.
Zwei Methoden kommen für uns in Betracht. Einmal erhielt die
Versuchsperson ein Reizwort, z. B. »Wilhelm«, worauf sich in ihr die
Reproduktion »Kaiser« anbahnte. Ehe sie aber damit fertig war, also
nach etwa einer Sekunde, erhielt sie ein zweites Reizwort »Busch«,
und nun erlebte sie das visuelle Vorstellungsbild einer Karrikatur des
Kaisers im Stile von Wilhelm Buschs Zeichnungen, und zwar eine
Karrikatur, die sie früher noch niemals wahrgenommen hatte, die sie
sich vielmehr selbst gestaltete. Der Mechanismus ist in § 3 der ge-
nannten Arbeit geschildert und soll hier nicht wiederholt werden.
Daß sich unter den 2232Q Versuchen dieser durch zehn Jahre fort-
gesetzten Experimente auch viele Reaktionen ästhetischer Art be-
') Hans Henning, Experimentelle Untersuchungen zur Denkpsychologie, I. Die
assoziative Mischwirkung, das Vorstellen von noch nie Wahrgenommenem und deren
Grenzen, §§ 3 und 4. Zeitschr. f. Psychol. 81.
Gedächtnis- und Denkpsychologie hinein —, namentlich wer das Denken
neuer Vorstellungen erklären wollte, der stieß zunächst auf große
Schwierigkeiten. Die klassische Assoziationslehre macht es wohl be-
greiflich, daß eine Vorstellung in uns auftaucht, welcher eine frühere
Wahrnehmung entspricht, daß wir uns etwa beim Hören des Wortes
Venedig einiger dort erlebter Szenen erinnern; wie sollte aber ein
gänzlich neues Bild nur durch das assoziative Band zweier alter Er-
fahrungen bedingt sein? Eine größere Anzahl von Autoren — und
zwar Ach, Külpe, Watt, Dürr, Bühler, Messer, Wreschner, Moskiewicz,
Koffka, Grünbaum, Specht, in modifizierter Weise Müller-Freienfels
und andere — glaubten denn auch, hier versage die Assoziationslehre,
ja hier erweise sich ihre Unrichtigkeit, und so nahmen sie eine »de-
terminierende Tendenz« an, welche kräftiger als die Assoziationen
unserem Vorstellungsverlauf die typische Richtung gäbe. Indessen
konnte G. E. Müller diese Hypothese als unwissenschaftlich zurück-
weisen und alle gemeldeten Befunde ohne mysteriöse Kräfte exakter
mit der Assoziationslehre erklären. Diese steht darum heute fester da
als je.
In einer experimentellen Untersuchung ) prüfte ich nun, wie das
Vorstellen von noch nie Wahrgenommenem eigentlich abläuft, was auch
die bei der Lektüre auftauchenden Bilder einbezieht. Der Mechanis-
mus war mit neuen Methoden zu fassen, und dabei zeigten sich zwölf
psychologische Gesetze über die Grenzen, Fesselungen und Gebunden-
heiten, welche unsere Phantasie einengen. Alle diese Grenzen lassen
sich mit Kunstgriffen, die bei großen Dichtern und Darstellern be-
sonders vorgebildet sind, je nachdem unmittelbar übersteigen oder doch
auf Seitenpfaden umgehen; manche Menschen freilich stoßen sich immer
wieder an solchen Grenzen.
Zwei Methoden kommen für uns in Betracht. Einmal erhielt die
Versuchsperson ein Reizwort, z. B. »Wilhelm«, worauf sich in ihr die
Reproduktion »Kaiser« anbahnte. Ehe sie aber damit fertig war, also
nach etwa einer Sekunde, erhielt sie ein zweites Reizwort »Busch«,
und nun erlebte sie das visuelle Vorstellungsbild einer Karrikatur des
Kaisers im Stile von Wilhelm Buschs Zeichnungen, und zwar eine
Karrikatur, die sie früher noch niemals wahrgenommen hatte, die sie
sich vielmehr selbst gestaltete. Der Mechanismus ist in § 3 der ge-
nannten Arbeit geschildert und soll hier nicht wiederholt werden.
Daß sich unter den 2232Q Versuchen dieser durch zehn Jahre fort-
gesetzten Experimente auch viele Reaktionen ästhetischer Art be-
') Hans Henning, Experimentelle Untersuchungen zur Denkpsychologie, I. Die
assoziative Mischwirkung, das Vorstellen von noch nie Wahrgenommenem und deren
Grenzen, §§ 3 und 4. Zeitschr. f. Psychol. 81.