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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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Bühler, Charlotte: Erfindung und Entdeckung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0068
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64 CHARLOTTE BÜHLER.

Es fragt sich nun, in welcher Weise die vollendende Formung
durch den Künstler vor sich gehen kann. Stets ist es eine Gestaltung
seines Welt- und Lebenserlebnisses durch irgend ein sinnfälliges Mittel,
durch Sprache oder Töne, durch Malerei, Zeichnung oder Bildnerei.
Dieses Sinnfällige ist Darstellungsmittel zur Darstellung des Gestal-
tungs- und Deutungserlebnisses. Es wird nun entweder versucht,
das Erlebnis unmittelbar zu fassen, und dem Material unmittelbar eine
Form zu geben, die etwas ausdrückt (mit Erfolg bisher nur in der
Musik oder durch das Ornament), oder aber sich an die Form ge-
gebener Dinge, Sachverhalte, Gedanken sie ausgestaltend anzuschließen,
und in der Art ihrer Wiedergabe die gestaltende Idee zu betätigen
und die Deutung aufzuzeigen. Diese Kunst nennen wir darstellende
Kunst, weil sie mit Hilfe einer Darstellung ausdrückt, die andere
nennen wir kundgebende Kunst, weil sie unmittelbar ausdrückt
oder kundgibt1). Die Sprache scheint uns wie die bildenden Künste
im Unterschied zur Musik in erster Linie dazu berufen, durch Dar-
stellung auszudrücken, weil ihr erster Zweck ist, verstanden zu
werden, weil sie durch Vermittlung der Darstellung das Erlebnis faß-
barer macht, wie man das auch von der darstellenden Malerei und
Plastik im Unterschied zu der expressionistischen entschieden be-
haupten muß. Doch hat die Sprache auch Mittel, unmittelbar auszu-
drücken, kundzugeben, sobald sie von ihren musikalischen Qualitäten
Gebrauch macht. Es geschieht das vorwiegend in der Lyrik, doch
mit Erfolg auch in anderen Gebieten der Dichtung. Wir wollen uns
zunächst mit darstellender Dichtkunst befassen, welche in Roman und
Novelle am meisten zu ihrem Recht kommt. Zwei Seiten sind als
spezifisch künstlerisch in der Darstellung herauszuanalysieren, die Art
der Deutung und die Art der Gestaltung.

Das Gesetz der Gestaltung kann der Künstler nicht allein, wie
Raphael behauptet, aus seinem eigenen Gestaltungswillen und der
darin schaffenden Idee empfangen, sondern gleichzeitig aus dem Er-
gebnis seiner Deutung. Beides wird sich durchdringen. Je nachdem
die gestaltende eigene Idee oder die Deutung im Vordergrund seines
Erlebnisses steht, wird er unter der Notwendigkeit der Idee oder unter
der Notwendigkeit des dem Gegenstande innewohnenden Gesetzes
schaffen, wie er es deutend erfaßte. Die vorangegangene impressio-
nistische, psychologische und naturalistische Epoche gibt uns das
Bild einer Kunst, die ganz von dem Gesetz, das dem Gegenstand
innewohnt und das sie zu erfassen suchte, beherrscht, ja fasziniert

') Über den Unterschied von Darstellung, Kundgabe und Auslösung vgl.
K. Bühler, »Kritische Musterung der neueren Theorien des Satzes«. Idgerm. Jahr-
buch Bd. 6, 1919.
 
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