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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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Lange, Konrad von: Bewegungsphotographie und Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0107
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BEWEGUNGSPHOTOGRAPHIE UND KUNST. 103

»Die Kunst darf nie die Wirklichkeit erreichen,
Denn wo Natur ist, muß die Kunst entweichen.«

Unsere naturalistische Ästhetik war bekanntlich anderer Ansicht. Arno
Holz hat in der Blütezeit des Naturalismus das Wort geprägt: »Die
Kunst strebt danach, wieder Natur zu sein. Sie wird es nach Maß-
gabe ihrer technischen Bedingungen.« Diese Definition paßt wörtlich
auf das Kino. Sie paßt aber nicht auf die Kunst. Die Kunst strebt
nicht danach, Natur zu sein, sondern Natur darzustellen. Ihr
Ideal ist nur, bis zu einem gewissen Grade Natur zu
scheinen. Und zwar muß dieser Schein, wie schon Schiller wußte,
ein »aufrichtiger« sein, er darf nie zur Täuschung ausarten. Eine
Technik, deren Wesen darin besteht, daß sie nach absolutem Zu-
sammenfallen mit der Natur, d. h. nach Täuschung strebt, kann nie-
mals Kunst sein. Und da nun das Kino, wie wir gesehen haben, in
seiner ganzen technischen Entwicklung dieses Streben zeigt, so ist es
keine Kunst. Seine Entwicklung führt nicht zur Kunst hin, sondern
von der Kunst ab. Und zwar um so mehr, je mehr sie eine Annäherung
an die Natur bedeutet. Jeder Schritt weiter zur Natur stellt einen Schritt
von der Kunst fort dar. Eine Technik, die danach strebt, Bilder zu
schaffen, deren Eindruck mit dem der Natur zusammenfällt, ist ebenso-
wenig Kunst wie etwa die täuschende Imitation von Vogelstimmen
oder die Herstellung künstlicher Blumen aus Papier oder gewebten
Stoffen. Man macht so etwas wohl einmal aus irgend einem Grunde,
sei es aus Bequemlichkeit, sei es, um seine technische Virtuosität zu
zeigen. Aber man macht es nicht mit dem Anspruch, Kunst zu schaffen.
Mag auch bei diesen täuschenden Techniken die Täuschung aus irgend
einem Grunde, vielleicht infolge technischer Mängel, nicht perfekt werden,
schon die Absicht der Täuschung charakterisiert sie als unkünst-
lerische Tätigkeiten. Und diese Absicht ist es, die das Kino aus dem
Reiche der Künste ausschließt. Die Kinematographie ist nicht nur des-
halb keine Kunst, weil sie Photographie ist und als solche die Vor-
stellung von der Persönlichkeit eines schaffenden Künstlers ausschließt,
sondern auch deshalb, weil ihre Entwicklung in der Richtung auf
absolutes Zusammenfallen mit der Natur, d. h. auf Täuschung geht.
 
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