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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 15.1921

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Waetzoldt, Wilhelm: Die Begründung der deutschen Kunstwissenschaft durch Christ und Winckelmann
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https://doi.org/10.11588/diglit.3623#0186
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182 WILHELM WAETZOLDT.

des Rokoko zu erweisen, in Rom suchte er dann die neueren Kunst-
werke als Vergleichsobjekte den alten gegenüberzustellen. Die Kritik
Winckelmanns bezieht sich zunächst auf die Form. Das schöne Gleich-
gewicht zwischen dem Mageren und dem Fleischigen, zwischen »schwül-
stiger Ausdehnung des Fleisches« und »ausgehungertem Kontur« ist
verloren. Der »große Rubens (von kleineren zu schweigen) ist weit
entfernt von dem griechischen Umrisse der Körper«. Das Antike,
quellfrisch Lebendige im Rubenswerke sah Winckelmann nicht. Ein
gewöhnlicher Realismus beherrscht die Absichten der Künstler. Er
führt nicht zu griechischen, sondern zu holländischen Formen und
Figuren. Beweis etwa Caravaggio und Jordaens, die zur Gattung
niederer Geister gehören, weil sie die Natur malten, wie sie sie fanden.
In der Bildhauerei signalisiert die illusionistische Wiedergabe aller Zu-
fälligkeiten, z. B. der Hautfalten an gedrückten Körperteilen, und der
»gar zu sinnlich gemachten Grübchen« den Verfall. Dazu kommt die
Maßlosigkeit im Ausdruck, »das freche Feuer«, das ungewöhnliche
Stellungen und Handlungen begleitet. Bernini ist für Winckelmann
der Antichrist, der große Kunstverderber, gegen den sich eigentlich
alles Geschütz Winckelmanns richtet. Talent und Geist werden ihm
nicht abgesprochen, wohl aber die Grazie und die Achtung antikischer,
kanonischer Gesetze. Die Linie des griechischen Profils hat er »in
seinem größten Flor nicht kennen wollen, weil er sie in der gemeinen
Natur, welche nur allein sein Vorwurf gewesen, nicht gefunden«. Das
dritte Verfallsmerkmal ist die Verbrauchtheit der Stoffe, daher die Ge-
dankenleerheit der Gemälde. Als Heilmittel empfiehlt Winckelmann,
wie vor ihm die Renaissanceästhetiker, die Allegorie, die alles Mytho-
logische umfaßt, eine Fundgrube für gebildete Maler. Aus der Masse
der geistlosen Maler, die immer wieder die Geschichte der Heiligen,
die Mythologie und die Verwandlungen Ovids zu Gegenständen wählen,
ragt Rubens durch die unerschöpfliche Fruchtbarkeit seines Geistes
hervor, er ist »reich bis zur Verschwendung«, er hat gedichtet wie
Homer. In diesem Satze seiner Erläuterung stellt Winckelmann als
erster die beiden zusammen, die J. Burckhardt die größten Erzähler
nannte, welche unser alter Erdball bis heute getragen hat.

Je tiefer Winckelmann in die Welt des Altertums mit Geist und
Seele untertauchte, um so kühler und ablehnender wurde sein Ver-
hältnis zur neueren Kunst. Ihn verfolgt die Frage, die er einmal vor
Werken der beliebten Maler van der Werff und Denner aufwirft: »was
aber würde das Altertum sagen?« So kam es, daß Winckelmann, auf
den die Werke der Uffizien und des Pitti keinen tiefen Eindruck ge-
macht hatten, in Rom sogar bedauert, aus Gefälligkeit einigen neueren
Künstlern einige Vorzüge eingeräumt zu haben. Er ladet die moderne
 
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